Nachfolgend ein Beitrag vom 2.5.2016 von Pfützenreuter, jurisPR-SteuerR 18/2016 Anm. 2

Leitsätze

1. Voraussetzung für die verjährungshemmende Wirkung der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen durch die Steuerfahndung nach § 171 Abs. 5 Satz 1 AO ist, dass für den Steuerpflichtigen klar und eindeutig erkennbar ist, in welchen konkreten Steuerangelegenheiten ermittelt wird.
2. Unzureichende oder widersprüchliche Sachverhaltsdarstellungen im angefochtenen Urteil stellen einen materiell-rechtlichen Fehler dar, der auch ohne diesbezügliche Rüge zum Wegfall der Bindungswirkung des § 118 Abs. 2 FGO führt.

A. Problemstellung

Beginnen die Zollfahndungsämter oder die mit der Steuerfahndung betrauten Dienststellen der Landesfinanzbehörden vor Ablauf der Festsetzungsfrist beim Steuerpflichtigen mit Ermittlungen der Besteuerungsgrundlagen, so läuft die Festsetzungsfrist insoweit nicht ab, bevor die aufgrund der Ermittlungen zu erlassenden Steuerbescheide unanfechtbar geworden sind (§ 171 Abs. 5 Satz 1 AO). Streitig war, unter welchen Voraussetzungen das Tatbestandsmerkmal des § 171 Abs. 5 Satz 1 AO „mit Ermittlungen der Besteuerungsgrundlagen beginnen“ erfüllt ist.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger und seine Schwester erklärten am 03.05.2010 als Gesamtrechtsnachfolger ihrer verstorbenen Mutter Einkünfte aus Kapitalvermögen u.a. für die Streitjahre (1998 und 1999) nach. Zuvor hatte der Kläger am 06.03.2010 durch eine Selbstanzeige eigene Kapitaleinkünfte für 1999 bis 2008 beim Finanzamt nacherklärt. Die Steuerfahndungsstelle des Finanzamts für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung teilte dem Kläger mit Schreiben vom 06.12.2010 unter Hinweis auf ein gegen ihn eingeleitetes steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren und seine Selbstanzeige mit, dass sie mit der Überprüfung der Selbstanzeige für die Jahre 1999 bis 2008 beauftragt worden sei und forderte ihn u.a. auf, Unterlagen über die nacherklärten Einkünfte seiner Mutter vorzulegen. Dieser Aufforderung kam der Kläger am 06.01.2011 nach. Die Steuerfahndung war der Ansicht, dass lediglich die Werbungskosten der Mutter in geringem Umfang gegenüber der Nacherklärung zu korrigieren sei.
Auf der Grundlage eines entsprechenden Schreibens der Steuerfahndung vom 19.04.2011 erließ das Finanzamt am 25.05.2011 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geänderte Einkommensteuerbescheide. Die vom Kläger erhobene Klage hatte – anders als die seiner Schwester – keinen Erfolg (FG Köln, Urt. v. 22.05.2013 – 8 K 3813/11 – EFG 2014, 408).
Auf die von ihm zugelassene Revision des Klägers hat der BFH die geänderten Steuerbescheide aufgehoben. Diese hätten – so der BFH – nicht ergehen dürfen, da zuvor Festsetzungsverjährung eingetreten gewesen sei. Die tatsächlichen Feststellungen des Finanzgerichts trügen nicht seine Würdigung, dass der Ablauf der Festsetzungsfrist nach § 171 Abs. 5 Satz 1 AO gehemmt gewesen sei. Unzureichende oder widersprüchliche Sachverhaltsdarstellungen im angefochtenen Urteil stellten einen materiellen Fehler dar, der auch ohne diesbezügliche Rüge zum Wegfall der Bindungswirkung des § 118 Abs. 2 FGO führe.
Das Finanzgericht lasse bei seiner Würdigung außer Betracht, dass nach den Vorgaben des § 171 Abs. 5 Satz 1 AO die Hemmung des Ablaufs der Festsetzungsfrist nur dann eintrete, wenn für den Steuerpflichtigen klar und eindeutig erkennbar sei, in welchem konkreten Besteuerungs- bzw. Strafverfahren die Steuerfahndung ermittele. Aus dem Schreiben der Steuerfahndungsstelle vom 06.12.2010 gehe dies nicht klar hervor, da weder auf die Nacherklärung vom 03.05.2010 Bezug genommen worden sei, noch die Veranlagungszeiträume angegeben seien, auf die sich die Ermittlungen hätten erstrecken sollen. Für den Kläger sei es aufgrund der widersprüchlichen Angaben im Betreff (Steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren, Selbstanzeige vom 06.03.2010) und Einleitungssatz (Überprüfung der Selbstanzeige des Klägers für 1999 bis 2008) nicht eindeutig erkennbar, dass Gegenstand der Ermittlungen auch die Kapitaleinkünfte der Mutter für die Jahre 1998 und 1999 hätten sein sollen.

C. Kontext der Entscheidung

I. Als Voraussetzung für die verjährungshemmende Wirkung der Ermittlungen der Besteuerungsgrundlagen fordert der BFH in ständiger Rechtsprechung, dass für den Steuerpflichtigen erkennbar sein muss, dass in seinen Steuerangelegenheiten ermittelt wird (BFH, Urt. v. 08.07.2009 – VIII R 5/07 – BStBl II 2010, 583, unter II.1., m.w.N., m. Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 3/2010 Anm. 1). Dieses Erfordernis ergibt sich nicht aus dem Wortlaut des § 171 Abs. 5 Satz 1 AO, denn danach reicht der bloße tatsächliche Vorgang der Ermittlungen aus. Der BFH legt das Gesetz aber im Hinblick auf seine Entstehungsgeschichte entsprechend restriktiv aus. Bei der Einfügung des § 171 Abs. 5 AO hatte der Finanzausschluss ausgeführt:
„Die Wirkung der Ablaufhemmung tritt nur ein, wenn vor Ablauf der Festsetzungsfrist mit Ermittlungen beim Steuerpflichtigen begonnen wird, oder wenn dem Steuerpflichtigen die Einleitung des Steuerstraf- oder Bußgeldverfahrens bekanntgegeben wird. Damit wird sichergestellt, dass der Steuerpflichtige vom Eintritt der Ablaufhemmung Kenntnis erhält“ (BFH, Urt. v. 16.04.1997 – XI R 61/94 – BStBl II 1997, 595, unter 3.). So wie die Einleitung des Steuerstrafverfahrens oder des Bußgeldverfahrens bekanntgegeben werden muss (§ 171 Abs. 5 Satz 2 AO), müssen die Ermittlungen der Steuerfahndung (§ 171 Abs. 5 Satz 1 AO) für den Steuerpflichtigen erkennbar sein.
II. An diese Rechtsprechung hat der BFH im Besprechungsfall angeknüpft und präzisiert, dass für den Steuerpflichtigen „klar und eindeutig“ erkennbar sein müsse, „in welchem konkreten Besteuerungs- bzw. Strafverfahren die Steuerfahndung ermittelt“. Da es einerseits ein Besteuerungsverfahren für den Kläger aufgrund seiner Selbstanzeige für 1999 bis 2008 vom 06.03.2010 sowie ein eingeleitetes steuerstrafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen den Kläger wegen Einkommensteuerhinterziehung 2004 bis 2008 und andererseits das Besteuerungsverfahren für seine verstorbene Mutter aufgrund der Nacherklärung vom 03.05.2010 für 1998 bis 2002 gab, hätte aus dem Schreiben der Steuerfahndung vom 06.12.2010 „klar und eindeutig“ hervorgehen müssen, dass Gegenstand der Ermittlungen „auch“ die Kapitaleinkünfte der Mutter für 1998 und 1999 sein sollten. Dem Umstand, dass der Kläger am 06.01.2011 die angeforderten Unterlagen für seine Mutter unter Bezugnahme auf das Schreiben vom 06.12.2010 bei der Steuerfahndung einreichte und dieses Schreiben somit auch als Ermittlungsmaßnahme wegen der Besteuerungsgrundlagen seiner Mutter verstanden hat, hat der BFH – anders als die Vorinstanz – keine Bedeutung beigemessen.

D. Auswirkungen für die Praxis

I. Hinsichtlich des Zeitpunkts, wann für den Steuerpflichtigen erkennbar sein muss, auf welche einzelnen Sachverhalte sich die Ermittlungen der Steuerfahndung beziehen, kommt es nicht darauf an, dass die Erkennbarkeit bereits vor Ablauf der nicht gehemmten Festsetzungsfrist eintritt (BFH, Urt. v. 24.04.2002 – I R 25/01 – BStBl II 2002, 586, unter II.3.c). Allerdings muss die Fahndungsstelle (nicht die Strafsachen- und Bußgeldstelle, vgl. BFH, Urt. v. 08.07.2009 – VIII R 5/07 – BStBl II 2010, 583, unter II.2.c bb, m. Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 3/2010 Anm. 1) vor Ablauf der nicht gehemmten Festsetzungsfrist tatsächlich Ermittlungshandlungen vorgenommen haben, die dann – später – für den Steuerpflichtigen erkennbar sind.
II. Da das Finanzamt die einjährige Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 9 AO aufgrund der Nacherklärung der Kapitaleinkünfte der verstorbenen Mutter hat verstreichen lassen, konnten nach der „verunglückten“ Ermittlungsmaßnahme der Steuerfahndung die unstreitigen Einkünfte wegen eingetretener Festsetzungsverjährung nicht berücksichtigt werden. Die Finanzverwaltung könnte deshalb in Erwägung ziehen, während des Laufs zweier Ablaufhemmungen (hier § 171 Abs. 5 und 9 AO) den Steuerbescheid sicherheitshalber zunächst – innerhalb der Frist des § 171 Abs. 9 AO – wegen der Nacherklärung zu ändern und ggf. später aufgrund einer (eindeutig erkennbaren) Ermittlungstätigkeit der Steuerfahndung erneut eine Änderung vorzunehmen, soweit die zu ändernde Steuerfestsetzung auf den Ermittlungen beruht.
III. Wäre im Besprechungsfall die Ermittlungstätigkeit der Steuerfahndung bezüglich der Besteuerungsgrundlagen der Mutter für den Kläger erkennbar gewesen, hätten die Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre nicht nur hinsichtlich der von der Fahndungsstelle festgestellten Einkünfteerhöhung (etwas geringere Werbungskosten) geändert werden dürfen. Auch die Einkünfteerhöhung, die dem Finanzamt durch die Nacherklärung vor Beginn der Ermittlungsmaßnahmen der Steuerfahndung bekannt geworden ist, ist nach Ansicht des BFH von der Ablaufhemmung des § 171 Abs. 5 Satz 1 AO umfasst, wenn – wie hier – das Ermittlungsergebnis der Fahndung von den Angaben in der Nacherklärung abweicht (vgl. BFH, Urt. v. 17.11.2015 – VIII R 68/13 – BFH/NV 2016, 610, unter II.2.b bb).
IV. Die Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 5 AO endet erst, wenn aufgrund der Ermittlungen Steuerbescheide ergangen und diese unanfechtbar sind. Ihr Ende ist nicht davon abhängig, dass die Bescheide innerhalb eines bestimmten Zeitraums nach Abschluss der Ermittlungen erlassen werden. Diese Regelung unterscheidet sich insoweit vor allem von der Ablaufhemmung nach § 171 Abs. 4 AO, der in Bezug auf die Außenprüfung anordnet, dass die Festsetzungsfrist spätestens innerhalb einer bestimmten Zeit nach Durchführung der Schlussbesprechung oder nach Abschluss der Ermittlungen abläuft (§ 171 Abs. 4 Satz 3 AO). Eine analoge Anwendung dieser Regelung im Rahmen des § 171 Abs. 5 AO hat der BFH abgelehnt (BFH, Urt. v. 24.04.2002 – I R 25/01 – BStBl II 2002, 586, unter II.4.b). Die zeitliche Grenze für den Erlass von Änderungsbescheiden im Anschluss an Fahndungsmaßnahmen wird nur durch den Eintritt der Verwirkung gezogen. Diese tritt ein, wenn über den Zeitablauf hinausgehende Umstände die verspätete Rechtsausübung als Verstoß gegen Treu und Glauben erscheinen lassen (BFH, Urt. v. 24.04.2002 – I R 25/01 – BStBl II 2002, 586, unter II.4.c).