Nachfolgend ein Beitrag vom 11.3.2019 von Steinhauff, jurisPR-SteuerR 10/2019 Anm. 2

Leitsatz

Wird ein AdV-Antrag während der Anhängigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH gestellt, kann dieser nur dann Erfolg haben, wenn neben den ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts zusätzlich ernstlich mit einer Zulassung der Revision oder der Zurückverweisung der Sache an das Finanzgericht wegen eines Verfahrensmangels zu rechnen ist.

A. Problemstellung

Der BFH verdeutlicht den umfassenderen Prüfungsmaßstab für einen während des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde gestellten Antrag auf Aussetzung der Vollziehung (AdV) des angefochtenen Steuerbescheids.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Antragsteller erzielte mit einem Gebrauchtwagenhandel Einkünfte aus Gewerbebetrieb. Er ermittelte seinen Gewinn durch Betriebsvermögensvergleich. Er begehrt zum 31.12.2007 die Vornahme einer Teilwertabschreibung auf den Bilanzansatz für sein Betriebsgrundstück. Das Finanzamt (Antragsgegner) versagte dies in der Einspruchsentscheidung vom 13.10.2011 und setzte die Einkommensteuer und den Gewerbesteuermessbetrag für 2007 entsprechend höher fest. Dabei berücksichtigte es gegenläufig eine Gewerbesteuerrückstellung i.H.v. 10.995 Euro, die es nach der „5/6-Methode“ schätzte.
Die Klage hatte im ersten Rechtsgang keinen Erfolg. Im anschließenden Revisionsverfahren hob der beschließende Senat das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts auf und verwies die Sache zurück (BFH, Urt. v. 21.09.2016 – X R 58/14 – BFH/NV 2017, 275). Im zweiten Rechtsgang wies das Finanzgericht die Klage erneut ab.
Das Finanzamt hatte den Antragstellern während der bisherigen Verfahrensabschnitte antragsgemäß jeweils AdV gewährt, zuletzt bis einen Monat nach Bekanntgabe des FG-Urteils im zweiten Rechtsgang (30.09.2018). Die Antragsteller haben gegen das FG-Urteil Nichtzulassungsbeschwerde erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Das Finanzamt hat einen Antrag, während des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde AdV zu gewähren, abgelehnt. Der BFH sah den Antrag als überwiegend begründet an. Er führte zur Begründung aus:

I. Werde ein AdV-Antrag (§ 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 FGO) wie hier während der Anhängigkeit einer Nichtzulassungsbeschwerde beim BFH gestellt, könne dieser wegen der im Falle der Erfolglosigkeit des Rechtsmittels sogleich eintretenden Rechtskraftwirkung nur dann Erfolg haben, wenn neben den ernstlichen Zweifeln an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsakts zusätzlich ernstlich mit einer Zulassung der Revision zu rechnen sei. Diese Betrachtungsweise liege sinngemäß auch den BFH-Beschlüssen vom 27.11.1997 (IV S 7/97 – BFH/NV 1998, 561) und vom 05.10.2010 (X S 27/10 – BFH/NV 2011, 274) zugrunde. Gleiches müsse gelten, wenn ernstlich damit zu rechnen sei, dass die Sache wegen eines Verfahrensmangels an das Finanzgericht zurückverwiesen werde. Dann komme es zusätzlich auf die Erfolgsaussichten des aufgrund der Zurückverweisung fortzusetzenden Klageverfahrens an (so für einen während eines Revisionsverfahrens gestellten AdV-Antrag BFH, Beschl. v. 21.11.1973 – I S 8/73 – BStBl II 1974, 114; vgl. auch BFH, Beschl. v. 24.11.1995 – VII S 21/95 – BFH/NV 1996, 420).

II. Diese Voraussetzungen seien vorliegend erfüllt. Die Antragsteller hätten ihre Nichtzulassungsbeschwerde umfangreich begründet und dabei zahlreiche Verfahrensmängel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) geltend gemacht. Ob diese Verfahrensrügen letztlich durchgriffen, bleibe der Beurteilung im – überdurchschnittlich komplexen und daher nicht kurzfristig zu erledigenden – Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde vorbehalten.
Jedenfalls erscheine ein Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde bei summarischer Beurteilung nicht bereits von vornherein als ausgeschlossen. Insbesondere hinsichtlich der Rüge der Antragsteller, das Finanzgericht habe ihnen nicht mitgeteilt, dass es sich die – im Urteil tatsächlich verwertete – Kaufpreissammlung beschafft habe, lasse sich der FG-Akte der erforderliche Hinweis des Finanzgerichts auf diese Maßnahme der Sachaufklärung nicht entnehmen. Auch das Finanzamt formuliere in seiner Beschwerdeerwiderung in diesem Zusammenhang, es könne nicht beurteilen, ob der Anspruch der Antragsteller auf Gewährung rechtlichen Gehörs hinsichtlich der Auszüge aus der Kaufpreissammlung, die sich der Vorsitzende des FG-Senats „selbst beschafft haben dürfte“, gewahrt worden sei.
Bei der gebotenen summarischen Betrachtung sei daher für Zwecke des AdV-Verfahrens davon auszugehen, dass mit einem Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde zu rechnen sein könne.

III. Darüber hinaus lägen auch in Bezug auf die in der Sache streitentscheidende Schätzung des Teilwerts neben Umständen, die für die Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verwaltungsakte sprächen, gewichtige, gegen die Rechtmäßigkeit sprechende Gründe vor. Die Beteiligten und das Finanzgericht hätten zahlreiche Einzelumstände in das Verfahren eingeführt, die für die Schätzung des Teilwerts von Bedeutung sein könnten. Darunter seien auch jedenfalls nicht von vornherein außer Betracht zu lassende Umstände, die für den von den Antragstellern begehrten niedrigeren Teilwert sprechen könnten. Diese Umstände werde das Finanzgericht erneut zu würdigen haben, sofern es bei einem Erfolg der Nichtzulassungsbeschwerde zu einem Klageverfahren im dritten Rechtsgang kommen sollte.
IV. Der AdV-Antrag könne allerdings insoweit keinen Erfolg haben, als bei einer Zuerkennung der begehrten Teilwertabschreibung gegenläufig auch die Zuführung zur Gewerbesteuerrückstellung zu mindern wäre.

C. Kontext der Entscheidung

I. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet einen umfassenden und effektiven Rechtsschutz. Dazu gehört auch die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes (BVerfG, Beschl. v. 22.09.2009 – 1 BvR 1305/09 Rn. 15 – DStR 2009, 2146 m.w.N.; Anm. Steinhauff, jurisPR-SteuerR 49/2009 Anm. 3). Deshalb muss der Betroffene die sofortige Vollziehbarkeit von Verwaltungsakten auch im Bereich des Abgabenrechts beseitigen können (BVerfG, Beschl. v. 13.06.1979 – 1 BvR 699/77 – BVerfGE 51, 268, 285).

II. Der Betroffene wird im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes unter bestimmten Voraussetzungen im Ergebnis rechtlich so gestellt, als hätte sein Rechtsbehelf (Rechtsmittel) aufschiebende Wirkung. Art. 19 Abs. 4 GG verbietet es, den Zugang zu einem Rechtsbehelf – dazu gehört auch die AdV ohne Sicherheitsleistung – in aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise zu erschweren (BVerfG, Beschl. v. 11.10.1978 – 2 BvR 214/76 – BVerfGE 49, 325, 341). Die Prozessordnung muss Vorkehrungen dafür treffen, dass der Einzelne seine Rechte auch tatsächlich wirksam durchsetzen kann. Ein Rechtsbehelf darf nicht ineffektiv gemacht werden und für den Beschwerdeführer „leerlaufen“ (BVerfG, Beschl. v. 30.04.1997 – 2 BvR 817/90 – BVerfGE 96, 27, 39, zur Berufungszulassung).

III. Art. 19 Abs. 4 GG garantiert insbesondere auch den effektiven vorläufigen Rechtsschutz. Denn wirksamer Rechtsschutz bedeutet auch Rechtsschutz innerhalb angemessener Zeit. Daraus folgt, dass gerichtlicher Rechtsschutz namentlich in Eilverfahren so weit wie möglich der Schaffung solcher vollendeter Tatsachen zuvorzukommen hat, die dann, wenn sich eine Maßnahme bei (endgültiger) richterlicher Prüfung als rechtswidrig erweist, nicht mehr rückgängig gemacht werden können. Hieraus ergeben sich für die Gerichte Anforderungen an die Auslegung und Anwendung der jeweiligen Gesetzesbestimmungen über den Eilrechtsschutz (BVerfG, Beschl. v. 16.05.1995 – 1 BvR 1087/91 – BVerfGE 93, 1, 13 m.w.N.; BVerfG, Beschl. v. 04.07.2001 – 1 BvR 165/01 – NVwZ-RR 2001, 694; BVerfG, Beschl. v. 27.04.2005 – 1 BvR 223/05 – NVwZ 2005, 1303). Sind dem Richter im Interesse einer angemessenen Verfahrensgestaltung Ermessensbefugnisse eingeräumt, so müssen diese im konkreten Fall im Blick auf die Grundrechte ausgelegt und angewendet werden. Sie dürfen nicht zu einer Verkürzung des grundrechtlich gesicherten Anspruchs auf einen effektiven Rechtsschutz führen (BVerfG, Beschl. v. 27.09.1978 – 1 BvR 361/78 – BVerfGE 49, 220, 226; Birkenfeld in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 69 FGO Rn. 30 ff.).

IV. Nicht einheitlich wird die Frage vom BFH beurteilt, ob die Zulassung der Revision – ebenso nach Erhebung einer Nichtzulassungsbeschwerde – im Hauptsacheverfahren, z.B. wegen grundsätzlicher Bedeutung (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) nicht zugleich ernstliche Zweifel i.S.d. § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO begründet. Der X. Senat des BFH (Beschl. v. 13.05.2015 – X S 9/15 Rn. 12 – BFH/NV 2015, 1099) neigt dazu, dies grundsätzlich zu bejahen. Demgegenüber verneint der V. Senat des BFH dies (BFH, Beschl. v. 24.05.2016 – V B 123/15 Rn. 33 – BFH/NV 2016, 1253; ebenfalls Stapperfend in: Gräber, FGO, 8. Aufl., § 69 Rn. 161).
Der III. Senat des BFH (Beschl. v. 19.03.2014 – III S 22/13 Rn. 17 – BFH/NV 2014, 856) und der XI. Senat des BFH (Beschl. v. 26.09.2014 – XI S 14/14 Rn. 34 – BFH/NV 2015, 158; ähnlich auch der I. Senat des BFH, Beschl. v. 11.08.2000 – I S 5/00 – BFH/NV 2001, 314) wollen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsaktes, der Gegenstand eines Revisionsverfahrens ist, erst annehmen, wenn unter Berücksichtigung der eingeschränkten Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts zurechnen ist (zum Ganzen vgl. Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, 4. Aufl., Anm. B 842).

D. Auswirkungen für die Praxis

I. Über den Aussetzungsantrag entscheidet das Gericht der Hauptsache (§ 69 Abs. 3 Satz 1 FGO). Gericht der Hauptsache ist dasjenige Gericht, bei dem das Verfahren über die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts, dessen Aussetzung begehrt wird, anhängig ist oder (im Fall des § 69 Abs. 3 Satz 2 FGO) sein wird. Der BFH ist danach Gericht der Hauptsache, wenn das Finanzgericht seine Sachentscheidungen und die Entscheidung über die Revisionszulassung getroffen hat. Er ist mithin zuständig, wenn in der Hauptsache Revision oder – gegen die Nichtzulassung der Revision – Nichtzulassungsbeschwerde eingelegt worden ist.

II. Ist der angegriffene Steuerbescheid bereits Gegenstand eines anhängigen Revisionsverfahrens, bestehen ernstliche Zweifel, wenn unter Berücksichtigung der eingeschränkten Prüfungsmöglichkeiten des Revisionsgerichts ernstlich mit der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Steuerbescheids zu rechnen ist. Das bedeutet, dass bei vermutlichem Durcherkennen des BFH auf die Erfolgsaussichten des Revisionsverfahrens, bei voraussichtlicher Zurückverweisung auf die Erfolgsaussichten des dann fortgesetzten Klageverfahrens abzustellen ist. Im Fall einer Zurückverweisung bestehen ernstliche Zweifel allerdings auch dann, wenn sich aufgrund der bisherigen Feststellungen des Finanzgerichts nicht absehen lässt, ob die Klage letztlich Erfolg haben wird (vgl. z.B. BFH, Beschl. v. 19.03.2014 – III S 22/13 Rn. 17 – BFH/NV 2014, 856 m.w.N.; zum Ganzen vgl. Jesse, Einspruch und Klage im Steuerrecht, Anm. B 842).

AdV-Gewährung im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde
Thomas HansenRechtsanwalt
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