Nachfolgend ein Beitrag vom 12.09.2016 von Grube, jurisPR-SteuerR 37/2016 Anm. 5

Leitsätze

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Enthält eine zur Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug nach Art. 168 lit. a i.V.m. Art. 178 lit. a MwStSystRL erforderliche Rechnung die „vollständige Anschrift“ i.S.v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL, wenn der leistende Unternehmer in der von ihm über die Leistung ausgestellten Rechnung eine Anschrift angibt, unter der er zwar postalisch zu erreichen ist, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt?
2. Steht Art. 168 lit. a i.V.m. Art. 178 lit. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegen, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtigt? Ist Art. 168 lit. a i.V.m. Art. 178 lit. a MwStSystRL insoweit berufbar?

A. Problemstellung

Der XI. Senat des BFH war zeitgleich wie der V. Senat des BFH aufgerufen, zu klären, welche formellen Mindestvoraussetzungen an eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung zu stellen sind und ob ggf. – und unter welchen Voraussetzungen – aus Gründen des Vertrauensschutzes die Gewährung des Vorsteuerabzugs geboten erscheint.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die Klägerin ist eine im Dezember 2007 gegründete und sich seit 2015 in Liquidation befindende GmbH, die im Jahr 2008 (Streitjahr) mit Kfz handelte. Alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der GmbH war A., der die Klägerin nunmehr als Liquidator vertritt.
In ihrer USt-Erklärung für 2008 erklärte die Klägerin u.a. steuerfreie innergemeinschaftliche Kfz-Lieferungen und 122 von der D. erworbene Fahrzeuge betreffende Vorsteuerbeträge in Höhe von … Euro.
Das Finanzamt folgte den Angaben der Klägerin nicht und setzte die USt für 2008 entsprechend den Feststellungen von zwei USt-Sonderprüfungen fest. Die als umsatzsteuerfrei erklärten innergemeinschaftlichen Kfz-Lieferungen nach Spanien (X) seien steuerpflichtig, weil die betreffenden Fahrzeuge tatsächlich nicht nach Spanien verbracht, sondern im Inland vermarktet worden seien. Die geltend gemachten Vorsteuerbeträge aus Rechnungen der D. seien nicht abziehbar, weil es sich dabei um eine „Scheinfirma“ handele, die unter ihrer Rechnungsanschrift keinen Sitz gehabt habe. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. Das Finanzgericht gab der Klage nur insoweit statt, als die Lieferung eines Porsche 997 S Cabrio besteuert worden war. Im Übrigen wies es die Klage als unbegründet ab (FG Düsseldorf, Urt. v. 14.03.2014 – 1 K 4566/10 U – EFG 2014, 1526).
Auf die von der Klägerin eingelegte Revision setzte der BFH das Verfahren aus und legte die im Leitsatz bezeichneten Fragen nach Art. 267 Abs. 2 AEUV dem EuGH vor.
I. Rechtliche Würdigung nach nationalem Recht
1. Fehlten die für den Vorsteuerabzug nach den §§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 i.V.m. 14, 14a UStG erforderlichen Rechnungsangaben oder seien sie unzutreffend, bestehe für den Leistungsempfänger kein Anspruch auf Vorsteuerabzug (vgl. z.B. BFH, Urt. v. 17.12.2008 – XI R 62/07 – BStBl II 2009, 432, unter II.2. Rn. 21; BFH, Urt. v. 22.07.2015 – V R 23/14 – BStBl II 2015, 914 Rn. 22; jeweils m.w.N.).
2. Der V. Senat des BFH habe entschieden, dass das Merkmal „vollständige Anschrift“ i.S.v. § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG nur die Angabe der zutreffenden Anschrift des leistenden Unternehmers erfülle, unter der er seine wirtschaftlichen Aktivitäten entfalte (vgl. BFH, Urt. v. 22.07.2015 – V R 23/14 – BStBl II 2015, 914, Leitsatz 1 sowie Rn. 25).
3. Danach sei die Klägerin hinsichtlich der in Rede stehenden Vorsteuerbeträge nicht im Besitz von zur Ausübung des Vorsteuerabzugs berechtigenden Rechnungen i.S.d. §§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 i.V.m. 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG. D. habe unter der in ihren Rechnungen angegebenen Anschrift keinerlei eigene geschäftliche (wirtschaftliche) Aktivitäten entfaltet.
4. Soweit es die Finanzverwaltung hinsichtlich der nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderlichen Angabe der „vollständigen Anschrift“ des Leistungsempfängers in Abschn. 14.5 Abs. 2 Satz 3 UStAE ausreichen lasse, wenn in der Rechnung dessen Postfach oder Großkundenadresse „anstelle der Anschrift angegeben wird“, binde diese Verwaltungsanweisung die Gerichte nicht (vgl. z.B. BFH, Urt. v. 16.12.2015 – XI R 28/13 – BFH/NV 2016, 695 Rn. 63, m.w.N.). Sie betreffe überdies den Leistungsempfänger und nicht den leistenden Unternehmer.
5. Die Klägerin könne sich nach der Rechtsprechung des BFH im Rahmen des vorliegenden Steuerfestsetzungsverfahrens nicht auf den Schutz ihres guten Glaubens an die Richtigkeit der Rechnungsangaben der D. berufen.
a) Das nationale Recht (§ 15 UStG) sehe den Schutz des guten Glaubens an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen im Steuerfestsetzungsverfahren nicht vor.
b) Vertrauensschutz sei nach nationaler Rechtslage nicht im Rahmen der Steuerfestsetzung nach den §§ 16, 18 UStG, sondern nur im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens gemäß den §§ 163, 227 AO aufgrund besonderer Verhältnisse des Einzelfalls zu gewähren (st. Rspr., vgl. z.B. BFH, Urt. v. 22.07.2015 – V R 23/14 – BStBl II 2015, 914 Rn. 31).
c) Mache der Steuerpflichtige Gesichtspunkte des Vertrauensschutzes bereits im Festsetzungsverfahren – vor Bekanntgabe der Steuerfestsetzung – geltend, sei die Entscheidung über die Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 Satz 3 AO regelmäßig mit der Steuerfestsetzung zu verbinden (vgl. BFH, Urt. v. 22.07.2015 – V R 23/14 – BStBl II 2015, 914 Rn. 32, 46).
II. Zur Anrufung des EuGH
1. Zur ersten Vorlagefrage
Unionsrechtlich sei klärungsbedürftig, ob für die in ausgestellten Rechnungen anzugebende „vollständige Anschrift“ des leistenden Unternehmers i.S.v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL die Angabe einer Anschrift ausreiche, unter der dieser zwar postalisch zu erreichen sei, wo er jedoch keine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe.
a) Das Recht auf Vorsteuerabzug setze auch unionsrechtlich neben den sonstigen Anforderungen als formelle Ausübungsvoraussetzung gemäß Art. 178 lit. a MwStSystRL den Besitz einer Rechnung voraus, die alle gemäß Titel XI Kap. 3 Abschn. 3 bis 6 (Art. 220 bis Art. 236 sowie Art. 238, 239 und 240 MwStSystRL) erforderlichen Angaben enthalte (vgl. EuGH, Urt. v. 21.06.2012 – C-80/11 und C-142/11 Rn. 52 „Mahageben und David“). Dazu gehörten gemäß Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL auch der vollständige Name und die vollständige Anschrift des Steuerpflichtigen. Dabei müsse die Rechnung alle in Art. 226 MwStSystRL genannten Informationen enthalten (vgl. z. B. EuGH, Urt. v. 15.07.2010 – C-368/09 – UR 2010, 693 Rn. 40 ff. „Pannon Gep Centrum“).
b) Der EuGH habe zum Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S.v. Art. 1 Nr. 1 der 13. Richtlinie 86/560/EWG entschieden, dass sich eine fiktive Ansiedlung in der Form, wie sie für eine „Briefkastenfirma“ oder für eine „Strohfirma“ charakteristisch sei, nicht als derartiger Sitz ansehen lasse (EuGH, Urt. v. 28.06.2007 – C-73/06 Rn. 62 m.w.N., „Planzer Luxembourg“).
c) Der Senat halte es nach Ergehen des EuGH-Urteils „PPUH Stehcemp“(EuGH, Urt. v. 22.10.2015 – C-277/14) für zweifelhaft, ob diese Auslegung des Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL der Auffassung des EuGH entspreche.
aa) Der EuGH habe darin u.a. festgestellt, dass ein etwaiger Verstoß des Lieferers der Gegenstände gegen die Pflicht, die Aufnahme seiner steuerbaren Tätigkeit anzuzeigen, das Abzugsrecht des Empfängers der gelieferten Gegenstände in Bezug auf die dafür entrichtete Mehrwertsteuer nicht in Frage stellen könne. Selbst wenn der Lieferer der Gegenstände ein Steuerpflichtiger sei, der nicht für mehrwertsteuerliche Zwecke registriert sei, stehe dem Empfänger daher das Recht zum Vorsteuerabzug zu, wenn die Rechnungen über die gelieferten Gegenstände alle nach Art. 22 Abs. 3 lit. b der Richtlinie 77/388/EWG – nunmehr Art. 226 MwStSystRL – vorgeschriebenen Angaben enthielten, insbesondere diejenigen, die zur Bestimmung des Ausstellers der Rechnungen und der Art der Gegenstände erforderlich seien (Rn. 40, m.w.N.).
In Bezug auf den Lieferer sei nach Ansicht des EuGH eine wirtschaftliche Tätigkeit nicht deshalb ausgeschlossen, weil der heruntergekommene Zustand des Gebäudes, in dem sich der Gesellschaftssitz des Lieferers befinde, keinerlei wirtschaftliche Tätigkeit gestatte, „da eine solche Feststellung nicht ausschließt, dass diese Tätigkeit an anderen Orten als dem Gesellschaftssitz ausgeführt wurde“ (Rn. 35). In den Rechnungen seien u.a. die Art der gelieferten Gegenstände und der Betrag der geschuldeten Mehrwertsteuer wie auch der Name des Lieferers, dessen Steueridentifikationsnummer und die Anschrift des Gesellschaftssitzes ausgewiesen worden. Daher habe aufgrund der vom vorlegenden Gericht aufgezeigten Umstände weder der Schluss gezogen werden können, dass der Lieferer nicht die Eigenschaft eines Steuerpflichtigen aufweise, noch dürfe dem Leistungsempfänger infolgedessen das Recht auf Vorsteuerabzug versagt werden (Rn. 42). Der Vorsteuerabzug sei nach diesem Urteil nur zu versagen, wenn aufgrund objektiver Anhaltspunkte und ohne von dem Steuerpflichtigen ihm nicht obliegende Überprüfungen zu fordern dargelegt werde, dass dieser Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass diese Lieferung im Zusammenhang mit einer Mehrwertsteuerhinterziehung stehe (Rn. 49, m.w.N.).
bb) Danach sei im Hinblick auf das Vorsteuerabzugsrecht des Leistungsempfängers möglicherweise nicht entscheidend, ob unter der in der Rechnung angegebenen Adresse i.S.v. Art. 226 Nr. 5 MwStSystRL eine wirtschaftliche Tätigkeit des Leistenden ausgeübt werde. Ob der Lieferer unter der angegebenen Rechnungsadresse eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübe oder nicht, könnte mithin keine Voraussetzung für den Vorsteuerabzug sein (vgl. von Streit/Luther, UStB 2016, 51, 56 f.). Treffe dies zu, dürfte bezogen auf den Streitfall der Vorsteuerabzug der Klägerin nicht deshalb versagt werden, weil D. unter der von ihr angegebenen Rechnungsadresse, an der sich zudem ihr statuarischer Sitz befunden habe, keine eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet habe.
cc) Überdies dürfte in Anbetracht der technischen Fortentwicklung und der Änderung von Geschäftsgebaren die Anforderung, dass unter der vom Lieferer angegebenen Anschrift geschäftliche Aktivitäten stattfänden, in vielen Fällen nicht (mehr) der wirtschaftlichen Realität entsprechen (vgl. FG Köln, Urt. v. 28.04.2015 – 10 K 3803/13 – EFG 2015, 1655 Rn. 28). Der klassische Unternehmer mit Büro und Personal, dessen Firma immer einen Sitz habe, an dem eigene wirtschaftliche Tätigkeit entfaltet worden sei, existiere heute vielfach nicht mehr. Das Berufsbild des Einzelunternehmers werde tatsächlich oftmals durch minimale Betriebsstrukturen geprägt, die weder ein herkömmliches Geschäftslokal noch einen Geschäftsbetrieb benötigten, sondern – wie z.B. im Fall eines Online-Händlers – Laptop und Mobiltelefon zur Abwicklung der Geschäfte ausreichen ließen (vgl. Weymüller, MwStR 2015, 816, 821).
2. Zur zweiten Vorlagefrage
Im Streitfall stelle sich ferner die Frage, ob Art. 168 lit. a i.V.m. Art. 178 lit. a MwStSystRL unter Beachtung des Effektivitätsgebots einer nationalen Praxis entgegenstehe, die einen guten Glauben des Leistungsempfängers an die Erfüllung der Vorsteuerabzugsvoraussetzungen nur außerhalb des Steuerfestsetzungsverfahrens im Rahmen eines gesonderten Billigkeitsverfahrens berücksichtige. Möglicherweise könne sich der Unternehmer insoweit unmittelbar auf das Unionsrecht berufen.
Wäre dies der Fall, könnte die Klägerin – unter Gewährung von Vertrauensschutz im Steuerfestsetzungsverfahren – den streitigen Vorsteuerabzug bereits dann beanspruchen, wenn sie – wie sie geltend mache – weder wusste noch hätte wissen können, dass D. unter der angegebenen Rechnungsanschrift nur einen „Briefkastensitz“ unterhalten habe.
a) Zwar seien mangels einer einschlägigen Unionsregelung Verfahrensmodalitäten, die den Schutz der dem Bürger aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung eines jeden Mitgliedstaats (vgl. BFH, Urt. v. 22.07.2015 – V R 23/14 – BStBl II 2015, 914 Rn. 32, m.w.N.).
b) Es sei jedoch nicht auszuschließen, dass unionsrechtlichen Belangen nur dadurch ausreichend Rechnung getragen werde, wenn – abweichend von der nationalen Praxis – der Vorsteuerabzug trotz des Fehlens einzelner materieller oder formeller Merkmale wegen des guten Glaubens des Leistungsempfängers an deren Vorliegen im Rahmen der Steuerfestsetzung zu gewähren sei (vgl. BFH, Beschl. v. 26.09.2014 – XI S 14/14 – BFH/NV 2015, 158; für die Berücksichtigung von Vertrauensschutz im Festsetzungsverfahren FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 03.04.2014 – 7 V 7027/14 – EFG 2014, 1445 Rn. 33 ff.; FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 27.08.2014 – 7 V 7147/14 – EFG 2014, 2096 Rn. 30; Wagner in: Sölch/Ringleb, Umsatzsteuer, § 15 Rn. 96; Stadie in: Rau/Dürrwächter, UStG, § 15 Rn. 882; Drüen, DB 2010, 1847; von Streit, UStB 2012, 288; Stapperfend, UR 2013, 321; Hassa, UR 2015, 809; Weymüller, MwStR 2015, 816; Grube, MwStR 2015, 964; Neeser, UVR 2015, 331; von Streit/Luther, UStB 2016, 51; ablehnend Heuermann, MwStR 2015, 798; ders. DStR 2015, 2077; Bunjes/Heidner, UStG, 14. Aufl., § 15 Rn. 30).
aa) Aus der jüngeren Rechtsprechung des EuGH (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 06.12.2012 – C-285/11 – UR 2013, 195 „Bonik“; EuGH, Urt. v. 13.02.2014 – C-18/13 – UR 2014, 861 „Maks Pen“) könnte sich ergeben, dass ein nicht vorliegendes Tatbestandsmerkmal des Vorsteuerabzugs durch den guten Glauben des Leistungsempfängers an dessen Vorliegen ersetzt werden könne.
bb) Es sei klärungsbedürftig, ob der EuGH das Recht auf Vorsteuerabzug durch Vertrauensschutzgesichtspunkte inzwischen erweitert habe oder nach wie vor (nur) begrenze, indem er den Vorsteuerabzug selbst dann versage, wenn dessen Voraussetzungen zwar tatsächlich vorlägen, jedoch aufgrund objektiver Umstände feststehe, dass der Steuerpflichtige wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit seinem Erwerb an einem Umsatz beteilige, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen gewesen sei (vgl. Heuermann, MwStR 2015, 798).
cc) Der Senat weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nach seinem Verständnis in der Rechtssache „PPUH Stehcemp“ (EuGH, Urt. v. 22.10.2015 – C-277/14) nicht alle materiellen Voraussetzungen für die Entstehung des Rechts auf Vorsteuerabzug vorgelegen hätten; denn es sei nicht zu ermitteln gewesen, wer die Lieferung tatsächlich ausgeführt habe.
dd) Falls bereits auf Tatbestandsebene des Art. 168 lit. a MwStSystRL Vertrauensschutzgesichtspunkte berücksichtigt werden müssten, könnte außerdem von Bedeutung sein, dass nach der Rechtsprechung des EuGH die Voraussetzungen für die Entstehung und der Umfang des Rechts auf Vorsteuerabzug so klar, genau und unbedingt geregelt seien, dass sich ein Einzelner gegenüber einem Mitgliedstaat vor einem innerstaatlichen Gericht darauf berufen könne (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 18.01.2001 – C-150/99 Rn. 31 ff., m.w.N. „Stockholm Lindöpark“). Der Unternehmer könnte sich dann vor den nationalen Gerichten auf Vertrauensschutzgesichtspunkte bereits im Verfahren der Steuerfestsetzung berufen dürfen.
c) Die Verweisung der Steuerpflichtigen in Fällen der vorliegenden Art auf den Billigkeitsweg könnte außerdem dem unionsrechtlichen Effektivitätsgebot widersprechen (so z.B. Drüen, DB 2010, 1847, 1850, m.w.N.; von Streit/Luther, UStB 2016, 51).
aa) Nach der ständigen Rechtsprechung des EuGH dürften die Modalitäten der Verfahren, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollten, nicht ungünstiger sein als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte innerstaatlicher Art regelten – Äquivalenzgrundsatz –, und sie dürften die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren – Effektivitätsgrundsatz (vgl. z.B. EuGH, Urt. v. 12.02.2015 – C-662/13 – UR 2015, 359 Rn. 26, m.w.N. „Surgicare“).
bb) Der Senat halte es für möglich, dass das Festhalten an der Zweistufigkeit des Verfahrens bei Gutgläubigkeit des vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmers in Bezug auf die Rechnungsangaben des Lieferers die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte im Sinne dieser EuGH-Rechtsprechung übermäßig erschwere. Denn die in Fällen der vorliegenden Art praktizierte verfahrenstechnische Aufspaltung verzögere eine effektive Durchsetzung des Gutglaubensschutzes und erschwere den Rechtsschutz des Unternehmers (vgl. Drüen, DB 2010, 1847, 1850). Insbesondere werde dem Steuerpflichtigen mit dieser nationalen Praxis ggf. zugemutet, zwei gerichtliche Verfahren mit dem doppelten Prozessrisiko zu führen (vgl. dazu Weymüller, MwStR 2015, 816; von Streit/Luther, UStB 2016, 51, m.w.N.).

C. Kontext der Entscheidung

Der V. Senat des BFH hat zu einer ähnlichen Fragestellung zeitgleich ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet (BFH, Beschl. v. 06.04.2016 – V R 25/15), so dass der EuGH nun Gelegenheit haben wird, die ihm vorgelegten Auslegungsfragen nach Maßgabe der jeweiligen Sachverhalte zu beurteilen.
In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass sich die Frage der Gewährung von Vertrauensschutz beim Vorsteuerabzug nicht bei allen formellen Mängeln von Rechnungen stellt: Denn in bestimmten Fällen – etwa beim Fehlen von Rechnungsnummern oder Steuernummern – besteht die Möglichkeit, die Rechnungen zu berichtigen (§ 14 Abs. 6 Nr. 5 UStG i.V.m. § 31 Abs. 5 UStDV); sobald die berichtigte Rechnung vorliegt, entsteht nach gegenwärtiger Rechtslage im entsprechenden Festsetzungszeitraum der Nachreichung ein Anspruch auf Vorsteuerabzug (z.B. BFH, Urt. v. 24.08.2006 – V R 16/05 – BStBl II 2007, 340). Beim EuGH ist derzeit ein Vorabentscheidungsersuchen des FG Hannover anhängig zu der Rechtsfrage, ob – und ggf. unter welchen Bedingungen – eine solche Rechnungsberichtigung auf den Zeitraum des ursprünglich begehrten Vorsteuerabzugs Rückwirkung entfaltet (FG Hannover, Beschl. v. 03.07.2014 – 5 K 40/14 – MwStR 2015, 63, m. Anm. Zugmaier, Streit; vgl. dazu grundsätzlich auch Ismer, MwStR 2015, 575). Daran hat der Leistungsempfänger regelmäßig ein erhebliches Interesse, weil andernfalls zu seinen Lasten im Hinblick auf frühere Festsetzungszeiträume wegen zu Unrecht in Anspruch genommener Vorsteuerabzüge Zinslasten nach § 233a AO entstehen. In diesem beim EuGH unter dem Aktenzeichen C-518/14 geführten Verfahren „Senatex“ hat der zuständige Generalanwalt Bot am 17.02.2016 inzwischen seine Schlussanträge formuliert und ist zu dem Ergebnis gelangt, dass eine Versagung der Rückwirkung von berichtigten Rechnungen auf den ursprünglichen Festsetzungszeitraum grundsätzlich – abgesehen von Ausnahmefällen – nicht mit dem Unionsrecht im Einklang steht. Es bleibt abzuwarten, ob sich der EuGH dieser Rechtsauffassung anschließen wird.
Kommt eine derartige Rechnungsberichtigung aber – wie in den Sachverhalten der beiden Vorabentscheidungsersuchen – von vornherein nicht in Betracht oder hat schlichtweg nicht stattgefunden, stellt sich die Frage der Gewährung von Vertrauensschutz im Hinblick auf den begehrten Vorsteuerabzug des Leistungsempfängers, über die nun gleichfalls der EuGH befinden wird.

D. Auswirkungen für die Praxis

Im Hinblick auf die beiden beim EuGH unter den Aktenzeichen C-374/16 und C-375/16 geführten Vorabentscheidungsersuchen des BFH sollte bei ähnlich gelagerten Sachverhalten ggf. das Ruhen eines etwaigen Einspruchsverfahrens nach § 363 AO bzw. die Aussetzung des Verfahrens in entsprechender Anwendung von § 74 FGO beantragt werden.