Nachfolgend ein Beitrag vom 04.10.2016 von Prätzler, jurisPR-SteuerR 40/2016 Anm. 5

Tenor

1. Die Prüfung von Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem hat im Hinblick auf das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und den Grundsatz der Waffengleichheit, die in Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleistet sind, nichts ergeben, was die Gültigkeit dieser Bestimmungen berühren könnte, soweit sie Dienstleistungen von Rechtsanwälten an Rechtsuchende, die keine Gerichtskostenhilfe im Rahmen eines nationalen Systems der Gerichtskostenhilfe erhalten, der Mehrwertsteuer unterwerfen.
2. Art. 9 Abs. 4 und 5 des am 25. Juni 1998 in Arhus unterzeichneten Übereinkommens über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten kann für die Prüfung der Gültigkeit von Art. 1 Abs. 2 und Art. 2 Abs. 1 Buchst. c der Richtlinie 2006/112 nicht geltend gemacht werden.
3. Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112 ist dahin auszulegen, dass Dienstleistungen, die Rechtsanwälte zugunsten von Rechtsuchenden erbringen, die Gerichtskostenhilfe im Rahmen eines nationalen Systems der Gerichtskostenhilfe wie dem im Ausgangsverfahren fraglichen erhalten, nicht von der Mehrwertsteuer befreit sind.

A. Problemstellung

Der EuGH konnte zu der Frage entscheiden, ob sich ein Anspruch auf mehrwertsteuerfreie Anwaltsleistungen aus der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (EUGrdRCh), aus dem Übereinkommen über den Zugang zu Informationen von Aarhus vom 25.06.1998 (AarhusÜbk) oder aus einer sonstigen Rechtsgrundlage ergibt. Der EuGH verneint diese Frage.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

In Belgien galt für die Leistungen von Rechtsanwälten bis zum 31.12.2013 eine Mehrwertsteuerbefreiung, die wegen Art. 371 MwStSystRL auch nach Einführung des EU-Mehrwertsteuersystems erhalten werden durfte. Durch Gesetz vom 30.07.2013 wurde diese Steuerbefreiung ersatzlos abgeschafft. Hiergegen klagten diverse Anwälte und Anwaltszusammenschlüsse bzw. -kammern, woraufhin der Verfassungsgerichtshof dem EuGH mehrere Fragen zur Beurteilung vorlegte.
I. In seiner Antwort geht der EuGH zunächst auf die Frage ein, ob das Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf sowie der Grundsatz der Waffengleichheit nach Art. 47 EUGrdRCh durch die Mehrwertsteuerpflichtigkeit der Anwaltsleistungen verletzt werden. Der EuGH führt aus, dass die Vorlagefrage sich nur auf die durch die Mehrwertsteuer verursachten zusätzlichen Kosten beziehe, und nur auf Fälle, in denen keine Gerichtskostenhilfe die Kosten übernehme. Grundsätzlich könnten die Kosten eines Gerichtsverfahrens Einfluss auf die Entscheidung haben, ob ein Rechtssuchender seine Rechte gerichtlich geltend macht, und ob er sich dabei anwaltlich vertreten lässt. Allerdings sei die Mehrwertsteuer nur geeignet, das Recht auf den wirksamen Rechtsbehelf in Frage zu stellen, wenn die entsprechenden Kosten zu einem unüberwindlichen Hindernis führten oder die Ausübung des Rechts praktisch unmöglich machten oder übermäßig erschwerten. Im vorliegenden Fall spreche einiges gegen eine solche Annahme. So sei zunächst zu bedenken, dass der Anwalt, der nicht mehr steuerbefreit sei, nunmehr seinerseits ein Vorsteuerabzugsrecht aus seinen eigenen Kosten geltend machen könne, wodurch die reale Belastung sinke. Weiterhin seien in Belgien die Anwaltsgebühren frei aushandelbar, so dass eine Wettbewerbssituation bestehe, die ggf. dazu führe, dass nicht die gesamte Mehrbelastung an den Mandanten weiterbelastet werden könne. Jedenfalls liege keine strikte Korrelation zwischen der Mehrwertsteuer und den Kosten der Anwaltsleistung vor. Somit liege kein Verstoß gegen das Recht auf wirksamen Rechtsbehelf vor.
Auch der Grundsatz der Waffengleichheit sei nicht verletzt, denn dieser erfordere nicht, die Parteien hinsichtlich der von ihnen getragenen Kosten gleichzustellen. Auch bedeute die Möglichkeit, höhere Anwaltsgebühren wirtschaftlich zahlen zu können, nicht zwangsläufig eine bessere rechtliche Vertretung, zumal die freie Aushandelbarkeit der Honorare zu bedenken sei.
II. Eine weitere Vorlagefrage betraf Art. 9 Abs. 4 und 5 AarhusÜbk. Hierzu erläutert der EuGH, dass dieses Übereinkommen nicht die Gültigkeit der Richtlinie 2006/112/EG (MwStSystRL) in Frage stellen könne.
III. Schließlich geht der EuGH noch auf die Frage ein, ob eine Steuerbefreiung nach Art. 132 Abs. 1 lit. g MwStSystRL möglich sei, wenn die Kosten durch Gerichtskostenhilfe übernommen würden. Der EuGH verneint diese Frage. Er habe bereits in einem früheren Verfahren (EuGH, Urt. v. 17.06.2010 – C-492/08 – EuGHE I 2010, 5471 = UR 2010, 662 „Kommission gegen Frankreich“) die Anwendung des ermäßigten Steuersatzes entsprechend Art. 98 Abs. 2 MwStSystRL für von Prozesskostenhilfe erfasste Anwaltsleistungen ausgeschlossen, und dort ausgeführt, die Bedingung für die Steuerbegünstigung sei ein gemeinnütziger Zweck der Berufstätigkeit im Bereich der sozialen Sicherheit. Im vorliegenden Fall seien jedoch nicht alle Anwälte in Fällen der Kostenübernahme durch Gerichtskostenhilfe tätig, sondern nur solche, die dies freiwillig täten. Damit komme keine Steuerbefreiung in Betracht. Im Übrigen stehe die Besteuerung auch nicht im Widerspruch zu Art. 47 EUGrdRCh, denn die Gerichtskostenhilfe übernehme auch die Mehrwertsteuerbeträge.

C. Kontext der Entscheidung

Die belgische Steuerbefreiung für Rechtanwälte stellte eine Besonderheit dar, die teilweise sogar zu Steuergestaltungen genutzt wurde, indem Anwaltsleistungen für nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Mandanten gezielt über Belgien erbracht wurden. Insoweit ist es, auch im Interesse der Harmonisierung der Mehrwertsteuer, positiv, dass Belgien diese Regelung abgeschafft hat. Das nun entschiedene Verfahren wurde in erster Linie wegen der Berufung auf die EUGrdRCh aufmerksam verfolgt, es ging jedoch erwartungsgemäß aus.
Andererseits hatte der EuGH in einem Vertragsverletzungsverfahren entschieden, dass Finnland berechtigt war, die Leistungen der öffentlichen Rechtshilfebüros nicht der Mehrwertsteuer zu unterwerfen (EuGH, Urt. v. 29.10.2009 – C-246/08 – EuGHE I 2009, 10605 „Kommission gegen Finnland“; vgl. zu dieser Entscheidung Fischer, jurisPR-SteuerR 28/2016 Anm. 5). Diese Entscheidung wurde jedoch darauf gestützt, dass die Empfänger der Leistungen der Büros hierfür nur eine Gebühr zahlen mussten, die sich nach ihrem Einkommen und Vermögen bestimmte, womit es an dem erforderlichen unmittelbaren Zusammenhang von Leistung und Gegenleistung als Bedingung einer wirtschaftlichen Tätigkeit im Sinne des Mehrwertsteuersystems fehlte. Demzufolge betraf das entsprechende Verfahren einen vollkommen anderen Sachverhalt als der nun entschiedene belgische Fall.
Die EUGrdRCh scheint im Übrigen an Bedeutung zu gewinnen, wenn man einige Vorlageersuchen nationaler Gerichte der letzten Jahre betrachtet (beispielsweise EuGH, Urt. v. 17.12.2015 – C-419/14 – MwStR 2016, 153 = UR 2016, 58 „WebMindLicenses Kft“, zur Verwendung von im Rahmen eines parallel geführten, noch nicht abgeschlossenen Strafverfahrens ohne Wissen des Steuerpflichtigen erlangten Beweisen durch die Steuerbehörde; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 5/2016 Anm. 4; EuGH, Urt. v. 26.02.2013 – C-617/10 – UR 2014, 27 = HFR 2013, 464 „Åklagare/Hans Åkerberg Fransson“, zur Auslegung des Grundsatzes ne bis in idem zur Verhängung einer steuerlichen Sanktion und einer strafrechtlichen Sanktion bei Steuerhinterziehung; Anm. Hahn, jurisPR-SteuerR 30/2013 Anm. 4). In der anhängigen Rechtssache C-350/15 „Baldetti“ geht es um die strafrechtliche Verfolgung einer Person, wenn gegen diese wegen derselben Tat – Nichtabführung der Mehrwertsteuer – bereits ein bestandskräftiger Festsetzungsbescheid der Finanzverwaltung des Staates erlassen wurde, mit dem eine Geldbuße verhängt wurde.

D. Auswirkungen für die Praxis

Aus deutscher Sicht ist das Verfahren nicht unmittelbar relevant, da in Deutschland Rechtsanwaltsleistungen stets der Mehrwertsteuer unterliegen. Das Verfahren ist jedoch bedeutsam, da es die zunehmende Rolle der EUGrdRCh auch für Mehrwertsteuerfragen zeigt. So hat der BFH erst kürzlich in einem Verfahren über die umsatzsteuerliche Behandlung der Rabatte zugunsten der Privaten Krankenversicherungen (BFH, Beschl. v. 22.06.2016 – V R 42/15 – DStR 2016, 1919) an den EuGH vorgelegt und seine Vorlagefrage u.a. auf die Charta (Art. 20, Gleichbehandlungsgrundsatz) bezogen.
Vermutlich ist es ratsam, sich in Zukunft in Mehrwertsteuerfragen intensiver nicht nur mit der Mehrwertsteuersystemrichtlinie, sondern auch mit der Grundrechte-Charta auseinanderzusetzen.