Nachfolgend ein Beitrag vom 12.12.2016 von Schießl, jurisPR-SteuerR 50/2016 Anm. 2
Leitsätze
1. Für die Ermittlung des maßgeblichen Zeitpunkts hinsichtlich des Entstehens eines Auflösungsverlusts ist maßgeblich, dass der gemeine Wert des dem Gesellschafter zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens einerseits und die Liquidations- und (nachträglichen) Anschaffungskosten des Gesellschafters andererseits im Wesentlichen feststehen.
2. Bei Auflösung der Gesellschaft infolge Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens kann die Möglichkeit einer Zuteilung oder Zurückzahlung von Restvermögen an die Gesellschafter im Zeitpunkt der Eröffnung regelmäßig noch nicht ausgeschlossen werden.
3. Dies ist bei Durchführung eines Gesamtvollstreckungsverfahrens regelmäßig erst bei dessen Beendigung der Fall.
Orientierungssatz zur Anmerkung
Wird ein Gesamtvollstreckungsverfahren über das Vermögen einer GmbH eröffnet, stehen der gemeine Wert des dem Gesellschafter zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens einerseits und die Liquidations- und (nachträglichen) Anschaffungskosten des Gesellschafters andererseits regelmäßig erst bei Beendigung des Gesamtvollstreckungsverfahrens fest.
A. Problemstellung
Streitig ist der Zeitpunkt der Berücksichtigung eines Auflösungsverlusts nach § 17 Abs. 4 EStG im Fall eines eröffneten Gesamtvollstreckungsverfahrens.
B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung
Der Kläger war neben drei weiteren Gesellschaftern mit 7.669,38 Euro zu 30% am Nennkapital einer GmbH beteiligt. Ende 1993 und Anfang 1994 verbürgte er sich neben einem weiteren Gesellschafter für Verbindlichkeiten der GmbH gegenüber der P-AG. Das Amtsgericht ordnete die Sequestration (vorläufige Verwaltung des Vermögens) an. Die P-AG kündigte daraufhin die Darlehen. Im Oktober 1994 wurde der Kläger aus den Bürgschaften in Anspruch genommen.
Aufgrund des Sequesterberichts und Sachverständigengutachtens eröffnete das Amtsgericht das Gesamtvollstreckungsverfahren über das Vermögen der GmbH. In dem Bericht stellte der Sequester fest, es stünden einem Aktivvermögen in Höhe von 21.935,31 DM, das sich im Wesentlichen aus Forderungen aufgrund der noch nicht vollständigen Einzahlung des Nennkapitals in Höhe von 20.000 DM zusammensetze, Verbindlichkeiten der GmbH in Höhe von 200.000 DM gegenüber. Es könne unter Berücksichtigung der Lohnrückstände der Arbeitnehmer allenfalls mit einer Quote auf die bevorrechtigten Forderungen gerechnet werden.
Der Kläger wehrte sich in der Folgezeit gerichtlich gegen die Inanspruchnahme aus den hingegebenen Bürgschaften. Im Jahr 1999 wurde durch Versäumnisurteil des Landgerichts die Inanspruchnahme in Höhe von 220.700 DM rechtskräftig bestätigt. Mit Urteil aus dem Jahr 2001 wurde der Kläger außerdem im Wege der Ausfallhaftung zur Einzahlung der restlichen und bis dahin vom Gesellschafter W noch nicht geleisteten Stammeinlage verurteilt. W hatte bereits 1995 die eidesstattliche Versicherung abgegeben. Im Jahr 2005 stellte das Amtsgericht das Gesamtvollstreckungsverfahren mangels einer weiteren die Kosten des Verfahrens deckenden Masse ein.
Der Kläger machte in der Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 2005 einen Auflösungsverlust in Höhe von insgesamt 170.739,75 Euro geltend. Der Betrag setzte sich im Wesentlichen aus dem Verlust seiner (erbrachten) Stammeinlage, der Inanspruchnahme durch den Verwalter in der Folge der Nichterbringung der Stammeinlage, der Bürgschaftsinanspruchnahme sowie weiteren Kosten in der Folge des Konkurses der GmbH zusammen. Das Finanzamt lehnte die Berücksichtigung des Auflösungsverlusts für das Streitjahr mit Bescheid vom 23.11.2007 ab. Einspruch und Klage blieben erfolglos. Nach Ansicht des Finanzgerichts war der Verlust bereits im Jahr 1995 entstanden. Die Umstände, die zum Verlust des Klägers geführt hätten, hätten bereits bei Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens nach kaufmännischen Grundsätzen festgestanden. Der Kläger habe auch zu diesem Zeitpunkt damit rechnen müssen, für das nicht eingezahlte Nennkapital haften zu müssen.
Auf die Revision des Klägers hat der BFH die Vorentscheidung aufgehoben und die Sache an das Finanzgericht zurückverwiesen.
Das Finanzgericht habe zu Unrecht den geltend gemachten Verlust aus der Auflösung der GmbH im Streitjahr unberücksichtigt gelassen. Es habe jedoch keine Feststellungen dazu getroffen, in welcher Höhe die Verluste entstanden und steuerlich zu berücksichtigen sind.
I. Der BFH betont, dass zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch der Gewinn oder Verlust aus der Auflösung einer Kapitalgesellschaft gehöre, wenn der Gesellschafter innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft zu mindestens 1% beteiligt war (§ 17 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 EStG). Im Streitfall stehe fest, dass der Kläger zu mehr als 1% an der GmbH beteiligt war. Die GmbH sei mit der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens über ihr Vermögen aufgelöst gewesen (§ 60 Abs. 1 Nr. 4 GmbHG, § 1 Abs. 4 Satz 1 GesO).
II. Ein Gewinn sei erst in dem Jahr zu erfassen, in dem das auf die Beteiligung entfallende Vermögen der Gesellschaft verteilt worden und mit einer wesentlichen Änderung des bereits feststehenden Verlusts nicht mehr zu rechnen sei (st. Rspr., vgl. zuletzt BFH, Urt. v. 01.07.2014 – IX R 47/13 – BStBl II 2014, 786; Dötsch, jurisPR-SteuerR 42/2014 Anm. 4; BFH, Urt. v. 13.10.2015 – IX R 41/14 – BFH/NV 2016, 385; jeweils m.w.N.). Ein Auflösungsverlust stehe fest, wenn der gemeine Wert des dem Steuerpflichtigen zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens einerseits (§ 17 Abs. 4 Satz 2 EStG) und die Liquidations- und Anschaffungskosten des Gesellschafters andererseits (§ 17 Abs. 2 Satz 1 EStG) feststehen. Gleiches gelte, wenn sicher sei, dass eine Zuteilung oder Zurückzahlung von Gesellschaftsvermögen an die Gesellschafter ausscheidet und wenn die durch die Beteiligung veranlassten Aufwendungen feststehen (BFH, Urt. v. 01.07.2014 – IX R 47/13 – BStBl II 2014, 786; BFH, Urt. v. 13.10.2015 – IX R 41/14 – BFH/NV 2016, 385). Die Frage sei aus der Sicht ex ante zu beurteilen; nachträgliche Ereignisse wie der tatsächliche Ausgang eines Insolvenzverfahrens seien nicht zu berücksichtigen.
Bei Auflösung der Gesellschaft infolge der Eröffnung des Gesamtvollstreckungsverfahrens könne die Möglichkeit einer Zuteilung oder Zurückzahlung von Restvermögen an die Gesellschafter im Zeitpunkt der Eröffnung regelmäßig noch nicht ausgeschlossen werden. Dies sei bei Durchführung eines Gesamtvollstreckungsverfahrens regelmäßig erst bei dessen Beendigung der Fall. Die Voraussetzungen, unter denen ein Auflösungsverlust i.S.d. § 17 Abs. 4 EStG ausnahmsweise bereits vor Beendigung des Gesamtvollstreckungsverfahrens entstanden seien, lägen im Streitfall nicht vor.
III. Die Sache sei nicht spruchreif. Das Finanzgericht habe keine Feststellungen dazu getroffen, ob die Bürgschaftsverpflichtungen eigenkapitalersetzend waren sowie ob und wann und in welcher Höhe der Kläger Zahlungen auf die Bürgschaftsverpflichtungen geleistet hat. Zudem sei noch zu prüfen, ob der Kläger hinsichtlich der Bürgschaftsverpflichtungen mit der Gläubigerin eine Zahlungsvereinbarung getroffen oder ggf. einen Teilerlass erreicht hat. Dies habe das Finanzgericht nachzuholen.
C. Kontext der Entscheidung
I. Während die zeitliche Erfassung eines nach § 17 Abs. 1 EStG steuerpflichtigen Veräußerungsvorgangs regelmäßig nicht die Frage aufwirft, wann dieser zu berücksichtigen ist (Zeitpunkt des Übergangs des wirtschaftlichen Eigentums), ist die zeitliche Erfassung eines Auflösungs- bzw. Liquidationsgewinns bzw. -verlusts nach § 17 Abs. 4 EStG für den Praktiker schwieriger zu beurteilen. Der Urteilssachverhalt zeigt, wie unterschiedlich die Auffassungen des Steuerpflichtigen und der Finanzverwaltung nicht selten zu der Frage sind, welches das „richtige Jahr“ für die Verlustberücksichtigung ist.
Es ist eine Stichtagsbewertung notwendig, die auf den Zeitpunkt der Entstehung des Gewinns oder Verlusts vorzunehmen ist. Maßgeblicher Zeitpunkt ist derjenige, zu dem bei einer Gewinnermittlung durch Betriebsvermögensvergleich nach den handelsrechtlichen Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung der Gewinn oder Verlust realisiert wäre. Die für die Ermittlung des Auflösungsverlusts nach § 17 Abs. 4 EStG notwendige Stichtagsbewertung führt zu einer Erfassung des Auflösungsverlusts in dem Zeitpunkt, in dem der Auflösungsverlust feststeht (BFH, Urt. v. 01.07.2014 – IX R 47/13 – BStBl II 2014, 786, m.w.N.).
II. Der Auflösungsverlust steht fest, wenn der gemeine Wert des dem Steuerpflichtigen zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens und die Liquidations- und Anschaffungskosten feststehen. Entsprechendes gilt für den Fall, dass sicher ist, dass eine Zuteilung oder Zurückzahlung von Gesellschaftsvermögen an die Gesellschafter ausscheidet und die durch die Beteiligung verursachten Aufwendungen feststehen. Im Fall der Liquidation der Gesellschaft schließt der BFH eine Zuteilung oder Zurückzahlung von Gesellschaftsvermögen an die Gesellschafter regelmäßig erst dann aus, wenn die Liquidation abgeschlossen ist (BFH, Urt. v. 13.10.2015 – IX R 41/14 – BFH/NV 2016, 385). Im Sinne eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses kann ausnahmsweise eine frühere Berücksichtigung eines Auflösungsverlusts erfolgen, wenn
• die Eröffnung des Konkurs- oder Insolvenzverfahrens mangels Masse abgelehnt worden ist (z.B. BFH, Urt. v. 12.12.2000 – VIII R 22/92 – BFHE 194, 108 = BStBl II 2001, 385) oder
• aus anderen Gründen feststeht, dass die Gesellschaft bereits im Zeitpunkt des Auflösungsbeschlusses vermögenslos war (z.B. BFH, Urt. v. 04.11.1997 – VIII R 18/94 – BFHE 184, 374 = BStBl II 1999, 344).
Denn in diesen Fällen kann die Möglichkeit einer Zuteilung oder Zurückzahlung von Restvermögen an die Gesellschafter ausgeschlossen werden. Wird das Insolvenzverfahren oder wie im Besprechungsfall das Gesamtvollstreckungsverfahren indes eröffnet, ist eine Zuteilung oder Zurückzahlung regelmäßig nicht ausgeschlossen. Dies wäre nur in dem Ausnahmefall denkbar, wenn aufgrund des Inventars und der Verfahrenseröffnungsbilanz oder eine Zwischenrechnungslegung ohne weitere Ermittlungen und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, dass das Vermögen der Gesellschaft zu Liquidationswerten die Schulden nicht mehr decken wird und ein Zwangsvergleich ausgeschlossen erscheint (BFH, Urt. v. 12.12.2000 – VIII R 34/94 – BFH/NV 2001, 757).
III. Zu beachten ist, dass die Entstehung eines Auflösungsverlusts auch voraussetzt, dass die Höhe der nachträglichen Anschaffungskosten feststeht. Es muss daher absehbar sein, ob und in welcher Höhe dem Gesellschafter noch nachträgliche Anschaffungskosten oder sonstige im Rahmen des § 17 Abs. 2 EStG berücksichtigungsfähige Veräußerungs- oder Aufgabekosten entstehen. Insofern dürfen keine wesentlichen Änderungen mehr eintreten. Zu der Beurteilung der Vermögenslage auf der Ebene der Gesellschaft muss also die Beurteilung der Vermögenslage auf der Ebene des Gesellschafters hinzutreten.
D. Auswirkungen für die Praxis
Die Entscheidung führt die Rechtsprechungslinie des IX. Senat des BFH für den Realisierungszeitpunkt bei Verlusten nach § 17 Abs. 4 EStG konsequent fort und dient der Rechtssicherheit. Dem Praktiker wird die prägnante Leitlinie an die Hand gegeben: Wird ein Gesamtvollstreckungsverfahren über das Vermögen einer GmbH eröffnet, stehen der gemeine Wert des dem Gesellschafter zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens einerseits und die Liquidations- und (nachträglichen) Anschaffungskosten des Gesellschafters andererseits regelmäßig erst bei Beendigung des Gesamtvollstreckungsverfahrens fest.