Nachfolgend ein Beitrag vom 10.7.2017 von Schießl, jurisPR-SteuerR 28/2017 Anm. 4

Leitsatz

Die Rückabwicklung eines noch nicht beiderseits vollständig erfüllten Kaufvertrags ist aus der Sicht des früheren Veräußerers keine Anschaffung der zurückübertragenen Anteile, sondern sie führt bei ihm zum rückwirkenden Wegfall eines bereits entstandenen Veräußerungsgewinns; beim früheren Erwerber liegt keine Veräußerung vor (entgegen BFH-Urt. v. 21.10.1999 – I R 43, 44/98 – BFHE 190, 377 = BStBl II 2000, 424, insoweit aufgegeben).

A. Problemstellung

Die Entscheidung betrifft die in der Praxis bedeutsame Frage, welche steuerlichen Auswirkungen die Rückabwicklung eines noch nicht beiderseits vollständig erfüllten Kaufvertrags über Anteile an einer Kapitalgesellschaft hat. Streitig ist zum einen, in welcher Höhe der Ehemann M im Jahre 2004 im Zusammenhang mit Ausschüttungen aus dem steuerlichen Einlagekonto einer Kapitalgesellschaft einen Veräußerungsgewinn gemäß § 17 EStG erzielt hat. Zum andern ist streitig, in welcher Höhe die klagende Ehefrau F 2006 aus der Veräußerung von Geschäftsanteilen einen Veräußerungsgewinn gemäß § 17 EStG erzielt hat. Beides hängt davon ab, ob bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns jeweils die historischen Anschaffungskosten der Anteile zugrunde zu legen sind oder ob M sämtliche Anteile im Jahr 2001 nach einer gescheiterten Veräußerung zu höheren Anschaffungskosten zurückerworben hat.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

M war ursprünglich mit drei Geschäftsanteilen zu insgesamt etwas mehr als 13% am Stammkapital der A-GmbH beteiligt. Die historischen Anschaffungskosten für die Anteile betrugen zusammen 800.000 DM (409.033,50 Euro). M war außerdem mit zwei Geschäftsanteilen zu insgesamt 50% am Stammkapital der B-GmbH beteiligt. Die historischen Anschaffungskosten für diese Geschäftsanteile betrugen zusammen 250.000 DM (127.822,97 Euro).
Mit Vertrag vom 29.12.1998 veräußerte und übertrug M zwei der drei Geschäftsanteile an der A-GmbH sowie seine beiden Anteile an der B-GmbH an die D Holding AG (D). Der Kaufpreis betrug 4.940.000 DM (2.525.781,89 Euro) und 15.504.300 DM (7.927.222,71 Euro). D gab am 29.12.1998 außerdem zugunsten von M ein unwiderrufliches Angebot zum Erwerb des dritten Geschäftsanteils an der A-GmbH ab. Das Angebot war ursprünglich befristet. Es wurde von D mehrfach verlängert, zuletzt bis zum 31.03.2001.
Am 30.03.2001 vereinbarten M und D die Rückabwicklung sämtlicher Verträge (sofortige Rückabtretung sämtlicher Anteile an der A-GmbH und B-GmbH an M, Wegfall der Zahlungsverpflichtungen der D gegenüber M, Widerruf des Angebots der D zum Erwerb des dritten Geschäftsanteils an der A-GmbH). Dieser Vertrag wurde wie vereinbart durchgeführt.
Im Jahr 2004 erhielt M gemäß Beschluss vom 07.01.2004 eine Ausschüttung aus dem steuerlichen Einlagekonto der A-GmbH i.H.v. 3.858.498 Euro. Bereits im Jahr 2002 hatte M Ausschüttungen aus dem steuerlichen Einlagekonto der A-GmbH i.H.v. 169.300 DM (86.561,72 Euro) erhalten.
M ist beerbt worden von seiner Ehefrau F, der Klägerin, und den drei gemeinsamen Töchtern. Im Februar 2006 setzten sich die Miterben über den Nachlass auseinander. F erhielt unentgeltlich u.a. die Geschäftsanteile an der A-GmbH und an der B-GmbH. Mit Vertrag vom 07.07.2006 veräußerte F sämtliche Anteile an der A-GmbH und der B-GmbH. Der Veräußerungserlös betrug 10.431.893,38 Euro, die Veräußerungskosten beliefen sich auf 107.110,63 Euro.
Im Einkommensteuerbescheid F für 1998 ist ein Veräußerungsgewinn aus dem Vertrag vom 29.12.1998 nach dessen Rückabwicklung nicht mehr erfasst. Der Bescheid ist bestandskräftig. In ihrer Einkommensteuererklärung für 2004 machten F und M keine Angaben zu den Ausschüttungen aus dem steuerlichen Einlagekonto bei der A-GmbH. Der Einkommensteuerbescheid für 2004 erging zunächst erklärungsgemäß unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. In ihrer Einkommensteuererklärung für 2006 erklärte F einen Veräußerungsgewinn aus der Veräußerung der Geschäftsanteile an der A-GmbH und der B-GmbH i.H.v. 1.886.734 Euro.
In der Zeit von April 2008 bis März 2009 führte das Finanzamt eine Außenprüfung bei F als Rechtsnachfolgerin nach M u.a. für die Einkommensteuer 2002 bis 2006 durch. Der Prüfer vertrat die Auffassung, die Rückabwicklung der Verträge vom 29.12.1998 im März 2001 wirke auf den Zeitpunkt der Veräußerung (Dezember 1998) zurück. Die in den Streitjahren 2004 und 2006 erzielten Veräußerungsgewinne seien deshalb unter Berücksichtigung der historischen Anschaffungskosten zu ermitteln. Danach habe M im Jahr 2004 einen Veräußerungsgewinn von 3.536.026,22 Euro erzielt. Ein Teil davon (1.730.100 Euro) sei allerdings vorrangig als verdeckte Gewinnausschüttung zu erfassen (Veräußerungsgewinn danach: 1.805.926,22 Euro). Die Klägerin habe 2006 einen Veräußerungsgewinn von 10.196.959,78 Euro erzielt (steuerpflichtig: 5.098.479 Euro). Dem folgte das Finanzamt, änderte den Einkommensteuerbescheid für 2004 gemäß § 164 Abs. 2 AO und erließ den Einkommensteuerbescheid für 2006 mit entsprechendem Inhalt.
Die Klage hatte keinen Erfolg (FG Hannover, Urt. v. 26.11.2014 – 9 K 10128/11). Die gegen das Urteil des Finanzgerichts eingelegte Revision wies der BFH als unbegründet zurück. Das Finanzgericht habe die in den Jahren 2004 und 2006 erzielten Veräußerungsgewinne zu Recht unter Berücksichtigung der historischen Anschaffungskosten ermittelt. Die Rückabwicklung der Verträge von Dezember 1998 im März 2001 sei ein Ereignis mit steuerlicher Rückwirkung und keine Anschaffung.
I. Zwischen den Beteiligten sei nicht streitig, dass M im Jahr 2004 im Zusammenhang mit Rückzahlungen aus dem steuerlichen Einlagekonto der A-GmbH einen gemäß § 17 EStG steuerbaren Vorgang verwirklicht habe, und dass die Klägerin im Jahr 2006 einen steuerbaren Veräußerungsgewinn i.S.v. § 17 EStG erzielt habe. Unstreitig sei ferner, dass die von M erhaltenen Zahlungen aus dem steuerlichen Einlagekonto der A-GmbH mit dem Nominalwert zu bewerten seien und dass die Klägerin F bei der Ermittlung des von ihr 2006 erzielten Veräußerungsgewinns die Anschaffungskosten des M abziehen dürfe, da sie dessen Geschäftsanteile im Wege der Erbauseinandersetzung unentgeltlich erworben habe.
II. Der Große Senat des BFH habe zu § 16 Abs. 2 EStG entschieden, dass es nur auf den tatsächlich erzielten Veräußerungsgewinn ankomme. Dies erfordere es, später eintretende Veränderungen beim ursprünglich vereinbarten Veräußerungspreis solange und soweit materiell-rechtlich auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückzubeziehen, als der Erwerber seine Verpflichtung zur Zahlung des Kaufpreises noch nicht erfüllt habe. Dabei sei es unerheblich, welche Gründe für die Minderung oder Erhöhung des (tatsächlich erzielten) Erlöses maßgebend gewesen seien (BFH, Beschl. v. 19.07.1993 – GrS 2/92 – BStBl II 1993, 897, zum Forderungsausfall). Entsprechendes gelte für die Ermittlung des Veräußerungspreises i.S.d. § 17 Abs. 2 EStG.
In Fortentwicklung dieser Rechtsprechung habe der erkennende Senat entschieden, dass es für die Bewertung der als Gegenleistung (Veräußerungspreis) erhaltenen Sachgüter auf die Verhältnisse im Zeitpunkt der Erfüllung der Gegenleistungspflicht ankomme, wenn sie von den Verhältnissen im Zeitpunkt der Entstehung des Veräußerungsgewinns abwichen. Nach Maßgabe dieser Rechtsprechung wirke auch eine Veränderung der wertbestimmenden Umstände (dort: Börsenkurs) materiell-rechtlich auf den Zeitpunkt der Entstehung des Veräußerungsgewinns zurück. Der Senat sei damit der Auffassung entgegengetreten, die eine materielle Rückwirkung nachträglicher Veränderungen nur beim Vorliegen vertraglicher Leistungsstörungen annehmen wollte (zum Ganzen vgl. BFH, Urt. v. 13.10.2015 – IX R 43/14 – BStBl II 2016, 212; Anm. Schießl, jurisPR-SteuerR 51/2016 Anm. 3).
Diese Rechtsprechung betreffe ausdrücklich nur Umstände, die sich auf die Höhe des Veräußerungspreises auswirkten. Sie sei jedoch zu übertragen auf die Frage, ob ein Anschaffungsvorgang dem Grunde nach anzunehmen sei. Der Fall, dass der Veräußerungspreis rückwirkend in voller Höhe entfalle, sei danach genauso zu behandeln wie der Fall, dass die Veräußerung insgesamt rückgängig gemacht werde. Dies gebiete der Zweck des § 17 EStG, nur den tatsächlich erzielten Veräußerungsgewinn zu erfassen. Danach liege grundsätzlich eine steuerlich zurückwirkende Rückabwicklung und keine Veräußerung/Anschaffung vor, wenn der ursprüngliche Vertrag im Zeitpunkt der Rückabwicklung noch nicht beiderseits vollständig erfüllt gewesen sei. Unerheblich sei dagegen, ob der Vertrag wegen einer Leistungsstörung rückabgewickelt worden sei, und ob eine Leistungsstörung wirklich vorgelegen habe. Etwas anderes gelte nach der Rechtsprechung, wenn die Gegenleistung vollständig erfüllt sei. Eine Rückabwicklung des Vertrags nach diesem Zeitpunkt wirke materiell-rechtlich nur dann zurück, wenn der Rechtsgrund für die spätere Änderung im ursprünglichen Rechtsgeschäft angelegt gewesen sei.
Sei ein Veräußerungsgewinn bereits entstanden gewesen, bewirke die steuerlich zurückwirkende Rückabwicklung des Vorgangs, dass der Veräußerungsgewinn rückwirkend entfalle. Dies schließe es zugleich aus, den Vorgang der Rückabwicklung aus der Sicht des ursprünglichen Veräußerers als Anschaffung zu behandeln.
III. Nach diesen Maßstäben habe das Finanzgericht ohne Rechtsfehler die im März 2001 zwischen M und D vereinbarte Rückabwicklung der Verträge vom 29.12.1998 als materiell zurückwirkendes Ereignis behandelt und eine Anschaffung im Jahr 2001 verneint.
Die Verträge vom 29.12.1998 seien bis zu ihrer Rückabwicklung nicht vollständig erfüllt gewesen. Das Finanzgericht habe insoweit festgestellt, dass der Kaufpreis von der Erwerberin zu keinem Zeitpunkt gezahlt worden sei. Darin habe zugleich eine Leistungsstörung gelegen, die M unter weiteren Voraussetzungen auch zum Rücktritt vom Vertrag berechtigt hätte. Die am 30.03.2001 vereinbarte und durchgeführte einvernehmliche Rückabwicklung der Verträge vom 29.12.1998 wirke deshalb steuerlich auf den Zeitpunkt der Entstehung des Veräußerungsgewinns zurück mit der Folge, dass der entstandene Veräußerungsgewinn rückwirkend entfallen sei. Dies schließe es aus, den Vorgang zugleich als Anschaffung zu behandeln. M habe die Anteile im Jahr 2001 nicht zurückerworben, sondern zurückerhalten.
IV. Der IX. Senat weiche damit nicht von der Rechtsprechung des I. Senats ab. Soweit der I. Senat unter vergleichbaren Umständen in der Rückabwicklung eines Veräußerungs-/Anschaffungsgeschäfts auf der Seite des ursprünglichen Erwerbers eine Veräußerung und keine Rückabwicklung der Anschaffung erkannt habe (BFH, Urt. v. 21.10.1999 – I R 43, 44/98 – BStBl II 2000, 424), habe er auf Anfrage mitgeteilt, hieran nicht mehr festzuhalten.

C. Kontext der Entscheidung

I. Nach § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG gehört zu den Einkünften aus Gewerbebetrieb auch der Gewinn aus der Veräußerung von Anteilen an einer Kapitalgesellschaft, wenn der Veräußerer innerhalb der letzten fünf Jahre am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mindestens 1% beteiligt war. Als Veräußerung gilt auch die Ausschüttung oder Zurückzahlung von Beträgen aus dem steuerlichen Einlagekonto i.S.d. § 27 KStG, es sei denn, dass die Bezüge zu den Einnahmen aus Kapitalvermögen gehören (§ 17 Abs. 4 EStG). Veräußerungsgewinn ist der Betrag, um den der Veräußerungspreis nach Abzug der Veräußerungskosten die Anschaffungskosten übersteigt. Bei einer Ausschüttung oder Rückzahlung aus dem steuerlichen Einlagekonto ist als Veräußerungspreis der gemeine Wert des dem Steuerpflichtigen zugeteilten oder zurückgezahlten Vermögens der Kapitalgesellschaft anzusehen (§ 17 Abs. 4 Satz 2 EStG). Hat der Veräußerer den Anteil unentgeltlich erworben, so sind als Anschaffungskosten des Anteils die Anschaffungskosten des Rechtsvorgängers maßgebend, der den Anteil zuletzt entgeltlich erworben hat.
II. Anschaffungskosten sind nach § 255 Abs. 1 Satz 1 HGB sämtliche Aufwendungen, die geleistet werden, um einen Vermögensgegenstand zu erwerben, ihn also von der fremden in die eigene Verfügungsmacht zu überführen. Eine Übertragung der Verfügungsmacht findet zwar auch statt, wenn ein teilweise erfüllter Veräußerungsvorgang später rückgängig gemacht wird. In der Rechtsprechung des BFH ist jedoch anerkannt, dass die Rückabwicklung eines beiderseits noch nicht vollständig erfüllten Kaufvertrags keine Anschaffung ist, soweit das spätere Ereignis mit steuerlicher Wirkung auf den Zeitpunkt der Veräußerung zurückwirkt. Die Rückübertragung der Verfügungsmacht stellt in diesem Fall keinen gesonderten marktoffenbaren Vorgang, sondern nur einen notwendigen Teilakt im Rahmen der Rückabwicklung dar (vgl. BFH, Urt. v. 27.06.2006 – IX R 47/04 – BStBl II 2007, 162, zu § 23 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG; Anm. Fischer, jurisPR-SteuerR 51/2006 Anm. 3; BFH, Urt. v. 28.10.2009 – IX R 17/09 – BStBl II 2010, 539, zu § 17 Abs. 1 EStG; Anm. Dötsch, jurisPR-SteuerR 13/2010 Anm. 3).

D. Auswirkungen für die Praxis

Der I. Senat des BFH hält an seiner Rechtsprechung (BFH, Urt. v. 21.10.1999 – I R 43, 44/98 – BStBl II 2000, 424), wonach die Rückabwicklung eines Veräußerungs-/Anschaffungsgeschäfts auf der Seite des ursprünglichen Erwerbers eine Veräußerung und keine Rückabwicklung der Anschaffung sein sollte, nicht mehr fest. Dies hat der I. Senat auf Anfrage des IX. Senats mitgeteilt. Daraus folgt: Die Rückabwicklung eines noch nicht beiderseits vollständig erfüllten Kaufvertrags ist aus der Sicht des früheren Veräußerers keine Anschaffung der zurückübertragenen Anteile, sondern sie führt bei ihm zum rückwirkenden Wegfall eines bereits entstandenen Veräußerungsgewinns; beim früheren Erwerber liegt keine Veräußerung vor. Die bei späteren Veräußerungen erzielten Gewinne waren deshalb unter Berücksichtigung der historischen Anschaffungskosten zu ermitteln.