Nachfolgend ein Beitrag vom 6.6.2016 von Prätzler, jurisPR-SteuerR 23/2016 Anm. 6

Leitsätze

1. Die Veräußerung des Miteigentumsanteils an einer Sache (Buch) kann Gegenstand einer Lieferung sein (Änderung der Rechtsprechung).
2. Diese Lieferung ist trotz fehlenden Buchnachweises steuerfrei, wenn objektiv feststeht, dass der veräußerte Gegenstand unmittelbar nach der Veräußerung in einen anderen Mitgliedstaat gebracht wurde.

A. Problemstellung

Umsatzsteuerlich ist die Abgrenzung zwischen Lieferungen und sonstigen Leistungen oftmals von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei grenzüberschreitenden Transaktionen, aber auch für die Anwendung ermäßigter Steuersätze oder den Zeitpunkt der Steuerentstehung. Da der umsatzsteuerliche Lieferbegriff ein autonomer Begriff des Unionsrechts ist, kann diese Rechtsfrage sehr komplex sein.
Der BFH hat nunmehr seine bisherige Rechtsprechung zur Einräumung oder Übertragung von Miteigentumsanteilen an beweglichen körperlichen Gegenständen geändert.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Der Kläger verkaufte im Juli 2008 einen hälftigen Anteil an einem hochwertigen Buch, das sich in München befand, an eine britische Kunstgalerie. Im gleichen Monat holte ein Galerist das Buch ab und brachte es als Handgepäck nach Großbritannien. Die entsprechende Rechnung wurde ohne Hinweis auf Umsatzsteuer ausgestellt und im Jahr 2012 durch einen Hinweis auf eine steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung (§ 6a UStG i.V.m. § 4 Nr. 1 lit. b UStG) ergänzt. Im Mai 2010 verkaufte der Kläger den verbleibenden Miteigentumsanteil an die Galerie, während sich das Buch in Großbritannien befand. Auch dies wurde als steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferung bewertet. Bei einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung für das Jahr 2008 ging das Finanzamt von einer steuerbaren Lieferung des gesamten Buchs bereits in 2008 aus und behandelte diese wegen fehlenden Belegnachweises (§ 17a UStDV a.F.) als steuerpflichtig (ermäßigter Steuersatz nach § 12 Abs. 2 Nr. 1 UStG) sowie nahm an, der in 2010 gezahlte weitere Kaufpreis führe zu einer Erhöhung der Bemessungsgrundlage für 2008. Ein Rechtsbehelfsverfahren gegen die geänderte Umsatzsteuerfestsetzung führt zu einer Minderung der Bemessungsgrundlage, da nunmehr der später gezahlte Kaufpreis erst im Mai 2010 nach § 17 UStG berücksichtigt wurde. Im Übrigen blieb der Einspruch ohne Erfolg.
Die hiergegen eingelegte Klage war erfolgreich. Das Finanzgericht ging von einer steuerfreien innergemeinschaftlichen Lieferung des Buches nach Großbritannien aus und bewertete die fehlenden Buch- und Belegnachweise als unkritisch, denn es stehe zweifelsfrei fest, dass das Buch an einen Unternehmer in Großbritannien geliefert worden sei (FG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 09.10.2014 – 5 K 5225/12 – EFG 2015, 166). Bereits im Klageverfahren vertrat das Finanzamt nunmehr, es liege eine sonstige Leistung vor, und erhöhte daher die Umsatzsteuer unter Anwendung des Regelsteuersatzes, soweit die erste Teilleistung in 2008 betroffen war. Für das Jahr 2010 ging es dagegen wegen der Änderung des § 3a Abs. 2 UStG (allgemeines Empfängerortsprinzip für sonstige Leistungen an Unternehmen, Umsetzung des sog. Mehrwertsteuerpakets der EU) von einem Leistungsort in Großbritannien und somit einer Nichtsteuerbarkeit im Inland aus.
Der BFH wies die Revision im Ergebnis als unbegründet zurück. Der Lieferbegriff im Umsatzsteuerrecht (§ 3 Abs. 1 UStG) basiere auf Art. 14 Abs. 1 MwStSystRL. Er sei definiert als die Verschaffung einer eigentümerähnlichen Verfügungsmacht an einem körperlichen Gegenstand. Die bisherige Rechtsprechung des BFH (z.B. BFH, Urt. v. 27.04.1994 – XI R 91/92, XI R 92/92 – BStBl II 1994, 826; BFH, Urt. v. 22.06.1967 – V 185/63 – BFHE 89, 366) werde nach Zustimmung des XI. Senats (vgl. BFH, Beschl. v. 16.12.2015 – XI ER-S 3/15) aufgegeben, denn der EuGH habe das Unionsrecht bereits abweichend ausgelegt. Insbesondere in einer Entscheidung über die Übertragung eines Besitzrechts an einem bebauten Grundstück sowie des „Resteigentums“ an diesem (vgl. EuGH, Urt. v. 15.12.2005 – C-63/04 – EuGHE I 2005, 1108 „Centralan Property“) habe der EuGH beide Vorgänge als Grundstückslieferungen angesehen. Dann müsse aber die Übertragung von Eigentumsanteilen, wie vorliegend, entsprechend bewertet werden.
Die Klägerin habe der Galerie eigentümerähnliche Rechte übertragen, denn diese habe sowohl körperlichen Besitz erhalten als auch das Recht zur Begutachtung und sogar das Recht zur – tatsächlich vorgenommenen – Weiterveräußerung. Die Lieferung sei weiterhin als innergemeinschaftliche Lieferung steuerfrei. Das Buch sei unstreitig im Juli 2008 an eine bekannte Galerie nach London verbracht worden, die eindeutig als Unternehmer tätig sei. Grundsätzlich unterliege der Vorgang in Großbritannien der Erwerbsbesteuerung, wobei es nach der Rechtsprechung des EuGH nicht auf deren tatsächliche Durchführung ankomme (vgl. EuGH, Urt. v. 27.09.2007 – C-409/04 – BStBl II 2009, 70 „Teleos“; Anm. Küffner, jurisPR-SteuerR 48/2007 Anm. 6). Ein Belegnachweis liege – zwischenzeitlich – nach den Feststellungen des Finanzgerichts vor. Zwar fehlten Feststellungen zum Buchnachweis (§ 17c UStDV), insbesondere Aufzeichnung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Abnehmers, doch halte der Senat diese wegen des objektiv feststehenden Vorliegens der Voraussetzungen der Steuerfreiheit (EuGH, Urt. v. 27.09.2007 – C-146/05 – BStBl II 2009, 78 „Collee“; Anm. Küffner, jurisPR-SteuerR 48/2007 Anm. 5) nicht für entscheidungserheblich.

C. Kontext der Entscheidung

Ein entsprechendes Urteil wurde bereits seit längerer Zeit erwartet, zumal gewichtige Stimmen des Schrifttums sich dafür aussprachen, dass auch Miteigentumsanteile an beweglichen körperlichen Gegenständen umsatzsteuerlich als Lieferungen behandelt werden sollten. Zwar ließ der BFH in einer Entscheidung aus dem Jahr 2014 zur Übertragung eines Miteigentumsanteils an einem Pferd die Frage mangels Entscheidungserheblichkeit noch offen (BFH, Urt. v. 02.07.2014 – XI R 4/13 – BFH/NV 2014, 1913; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 9/2015 Anm. 5), doch begründete bereits das Finanzgericht überzeugend anhand der EuGH-Rechtsprechung, weshalb eine Neuorientierung geboten war.
Insbesondere der vorliegende Sachverhalt zeigt die unterschiedlichen Rechtsfolgen deutlich auf. So ist nach wie vor bei Büchern nur deren Lieferung ermäßigt besteuert (wenn auch mittlerweile ausgedehnt auf Lieferungen von Hörbüchern, vgl. Nr. 50 der Anlage 2 zum UStG, vgl. hierzu Fischer, jurisPR-SteuerR 51/2014 Anm. 6), nicht jedoch sonstige Leistungen. Ebenso gelten unterschiedliche Leistungsorte sowohl bei Umsätzen an Unternehmer als auch an Nichtunternehmer, wenn auch das allgemeine Empfängerortprinzip für sog. B2B-Dienstleistungen (eingeführt zum 01.01.2010, § 3a Abs. 2 UStG) hier zu Vereinfachungen geführt hat.
Nach wie vor ist der Begriff der eigentümerähnlichen Verfügungsmacht jedoch ein äußerst unbestimmter Rechtsbegriff, den eine stark einzelfallbezogene EuGH-Rechtsprechung kaum greifbar hat machen können (vgl. neben der zitierten Rechtssache „Centralan“ insbesondere EuGH, Urt. v. 16.02.2012 – C-118/11 – UR 2012, 230 = DStRE 2012, 1077 „Eon Aset Menidjmunt“; EuGH, Urt. v. 06.02.2003 – C-185/01 – BStBl II 2004, 573 „Auto Lease Holland“; mit neuer Verwirrung EuGH, Urt. v. 03.09.2015 – C-526/13 – MwStR 2015, 895 = HFR 2015, 989 „FBK“; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 9/2016 Anm. 6). Der BFH hat hierzu bisher ebenfalls eher wenig Klärendes beigetragen, sondern – zumindest im Bereich der Reihengeschäfte – eher die Unsicherheiten erhöht (vgl. beispielhaft BFH, Urt. v. 25.02.2015 – XI R 15/14 – BFHE 249, 343 = BFH/NV 2015, 772; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 32/2015 Anm. 6). Hier wäre vermutlich ein Handeln des Unionsgesetzgebers mehr als wünschenswert.
Positiv ist aus der Entscheidung weiterhin das klare Bekenntnis des BFH zum sog. Objektivnachweis innergemeinschaftlicher Lieferungen festzuhalten. Allerdings sollten Steuerpflichtige bedenken, dass EuGH und BFH keinen unbegrenzten Freibrief erteilen, sondern vielmehr den Grundsatz verfolgen, dass der Steuerpflichtige die Nachweise buch- und belegmäßig zu führen hat und der Objektivnachweis die Ausnahme bleiben soll (vgl. grundlegend EuGH, Urt. v. 27.09.2007 – C-184/05 – EuGHE I 2007, 7897 „Twoh International“; dazu P. Fischer, jurisPR-SteuerR 50/2007 Anm. 5; zur Ablehnung eines Zeugenbeweises neuestens BFH, Urt. v. 19.03.2015 – V R 14/14 – BStBl II 2015, 912).

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Entscheidung zeigt, dass der Unterscheidung zwischen Lieferung und sonstiger Leistung umsatzsteuerlich angemessene Aufmerksamkeit gewidmet werden sollte. Vermutlich werden zukünftig mehr Fallkonstellationen, auch und gerade im Immobilienbereich, als Lieferungen zu qualifizieren sein.
Bei grenzüberschreitenden Sachverhalten können die Rechtsfolgen erheblich andere sein. Wird beispielsweise eine sonstige Leistung an einen im Ausland ansässigen Unternehmer erbracht, wäre diese grundsätzlich nicht umsatzsteuerbar, und aus deutscher Sicht müsste man lediglich diese Unternehmereigenschaft mit geeigneten Mitteln belegen. Liegt eine Lieferung vor, müsste man sich hingegen um Lieferbelege als Belegnachweis bemühen. für Zweifelsfälle kann nur empfohlen werden, dies bereits rein vorsorglich zu tun, auch wenn eine Nachholung grundsätzlich bis zum Ende der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Finanzgericht zulässig wäre.
Ergänzende Fragen schließen sich an, wie beispielsweise, wann eine Lieferung – wenn der Gegenstand zunächst im Inland verbleibt – doch noch steuerfrei sein kann, vorausgesetzt, die Ausfuhr oder innergemeinschaftliche Warenbewegung findet später statt. Hierzu könnte die EuGH-Rechtsprechung (EuGH, Urt. v. 19.12.2013 – C-563/12 – HFR 2014, 182 = RIW 2014, 162 „BDV Hungary“; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 16/2014 Anm. 6; EuGH, Urt. v. 18.11.2010 – C-84/09 – EuGHE I 2010, 11645 „X“; Anm. Prätzler, jurisPR-SteuerR 10/2011 Anm. 7) Anhaltspunkte zugunsten einer großzügigeren Anwendung der Steuerfreiheit liefern.

E. Weitere Themenschwerpunkte der Entscheidung

Der BFH geht zusätzlich auf § 174 AO ein und führt aus, dass das Finanzamt auch während des Klageverfahrens im Jahr 2013 berechtigt gewesen sei, einen Umsatzsteuer-Änderungsbescheid für 2008 zu erlassen. Dies ergebe sich aus § 174 Abs. 4 AO. Das Finanzamt habe irrig den Sachverhalt in Bescheiden für 2008 und 2010 berücksichtigt. Nach erfolgreich im Rechtsbehelfsverfahren erreichter Änderung der Steuerfestsetzung für 2010 sei das Finanzamt zu einer Änderung für 2008 berechtigt gewesen. Dabei habe seine Auffassung auf bisheriger BFH-Rechtsprechung beruht und sei nicht subjektiv unrichtig gewesen. Auch das Verböserungsverbot des § 367 Abs. 2 Satz 2 AO greife nicht, denn die Änderung nach § 174 Abs. 4 AO sei eine eigenständige Änderung. Gleiches gelte für das finanzgerichtliche Verböserungsverbot.