Nachfolgend ein Beitrag vom 10.12.2018 von Jachmann-Michel, jurisPR-SteuerR 49/2018 Anm. 2

Leitsätze

1. Unter „Aufgabe zur Post“ i.S.d. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO wird auch die Übermittlung eines Verwaltungsakts durch einen privaten Postdienstleister erfasst.
2. Die Einschaltung eines privaten Postdienstleisters sowie die weitere Einschaltung eines Subunternehmers können für die Zugangsvermutung innerhalb der Dreitagesfrist von Bedeutung sein, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf gegeben ist. In diesen Fällen ist zu prüfen, ob nach den bei den privaten Dienstleistern vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden kann.

A. Problemstellung

Zu entscheiden war über die fristgerechte Erhebung einer Klage gegen einen durch privaten Kurierdienst übermittelten Einspruchsbescheid.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die beklagte Familienkasse hatte den gegen den Kindergeldablehnungsbescheid vom 30.04.2013 gerichteten Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 05.11.2015 als unbegründet zurückgewiesen. Auf der Einspruchsentscheidung ist vermerkt: „abgesandt am: 06.11.2015“ (Freitag). Nach Auskunft der Familienkasse wurde die versandfertige Ausgangspost am Freitag zwischen 12:30 Uhr und 13:00 Uhr durch den Kurierdienst, einen Subunternehmer der X (Y), abgeholt. Gegen den ablehnenden Bescheid erhob der Kläger am 10.12.2015 Klage. Im Klageverfahren trug er vor, dass die Einspruchsentscheidung ihm erst am 12.11.2015 zugegangen sei.
Das Finanzgericht hatte die Klage wegen Versäumung der Klagefrist durch Prozessurteil abgewiesen. Dem Kläger sei es nicht gelungen, die gesetzliche Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO zu entkräften, nämlich dass die Einspruchsentscheidung drei Tage nach der Aufgabe zur Post am Montag, den 09.11.2015 zugegangen sei. Insbesondere fehle es an einem substantiierten Tatsachenvortrag des Klägers zu einem verspäteten Zugang der Einspruchsentscheidung. Die Revision des Klägers hatte Erfolg. Der BFH führte zur Begründung aus:
I. Gemäß § 47 Abs. 1 FGO betrage die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginne mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf. Die Entscheidung könne auch durch die Post übermittelt werden (§ 366 AO i.V.m. § 122 Abs. 2 AO). Die Entscheidung gelte gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen sei. Im Zweifel habe die Behörde den Zugang des Verwaltungsaktes und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen.
II. Das Finanzgericht habe verfahrensfehlerhaft nähere Ermittlungen zum Zeitpunkt des Zugangs der streitgegenständlichen Einspruchsentscheidung unterlassen, obwohl sich entsprechende Ermittlungen aufdrängen mussten und sei insoweit zu Unrecht von der Zugangsfiktion nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ausgegangen. Zwar habe das Finanzgericht zutreffend festgestellt, dass die Familienkasse die Einspruchsentscheidung am 06.11.2015 zur Post aufgegeben habe, indem diese dem Subunternehmer des privaten Zustelldienstes X übergeben wurde. Unter „Aufgabe zur Post“ i.S.d. § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO werde auch eine Übermittlung des Verwaltungsakts durch einen privaten Postdienstleister erfasst, so dass der Tag der Aufgabe zur Post nicht hinausgeschoben werde. Es sei daher nicht zu beanstanden, dass das Finanzgericht nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens unter Berücksichtigung der von der Familienkasse geschilderten Vorkehrungen zur Postversendung von einer „Aufgabe zur Post“ der Einspruchsentscheidung am 06.11.2015 ausgegangen sei.
Es ergäben sich aber aus den besonderen Umständen des Falles Zweifel an dem typischen Geschehensablauf, dass das Schriftstück am dritten Tag nach Aufgabe zur Post (in C) den Empfänger (den Kläger in B) erreichen konnte. Zwar treffe es zu, dass es regelmäßig zunächst nur im Verantwortungsbereich des Absenders liege, das zu befördernde Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend rechtzeitig zur Post zu geben, sodass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen des Postdienstleisters den Empfänger innerhalb eines Dreitageszeitraums erreiche (vgl. BVerfG, Beschl. v. 04.04.2000 – 1 BvR 199/00 – HFR 2001, 495, Rn. 8). Die Zugangsfiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO könne sich dabei weiter auch auf schriftliche Verwaltungsakte erstrecken, die durch lizenzierte private Postdienstleister – zu denen auch der Postdienstleister X gehöre – übermittelt werden, da die Zuverlässigkeitsprüfung durch die Regulierungsbehörde die Vermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gewährleisten könne. Zu beachten sei aber, dass im Rahmen der Lizenzierung die Einhaltung konkreter Postlaufzeiten nicht geprüft werde. Daher sei grundsätzlich zu ermitteln, ob nach den bei dem privaten Dienstleister vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden könne. Dies gelte insbesondere dann, wenn neben dem privaten Zustelldienst, der wie die X bei bundesweiten Zustellungen regelmäßig nur über Verbundgesellschaften tätig werde, ein weiteres Dienstleistungsunternehmen zwischengeschaltet werde. Insoweit könne die Einschaltung privater Postdienstleister bei der Frage von Bedeutung sein, ob die Zugangsvermutung als widerlegt gelte, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf die Folge sei (BFH, Beschl. v. 18.04.2013 – X B 47/12 Rn. 17 – BFH/NV 2013, 1218).
Der Kläger habe auf diese besonderen Umstände im Streitfall hingewiesen. Weitere Ausführungen, um die Zugangsfiktion zu erschüttern, seien nicht erforderlich. Dem Begriff des Zweifels entspreche es, dass auch unbewiesene Tatsachen dieser Art die Nachweispflicht der Behörde auslösen. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass die einzelnen organisatorischen und betrieblichen Abläufe bei dem von der Behörde in Anspruch genommenen Dienstleister im behördlichen Verantwortungs- und Risikobereich lägen.
Bei dieser Sachlage und im Hinblick auf den auf einen Freitag fallenden Postaufgabetag hätte das Finanzgericht den organisatorischen und betrieblichen Ablauf beim Postdienstleister und seinem Subunternehmer weiter aufklären müssen.
Der bisher festgestellte Sachverhalt gebe keinen Aufschluss über die organisatorischen und zeitlichen Beförderungsabläufe. Der Familienkasse obliege eine gewissenhafte Prüfung, ob eine Zustellung innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO durch den hier gewählten privaten Postdienstleister mit jedenfalls gleich hoher Verlässlichkeit zu erwarten sei wie bei einer Versendung im Rahmen des Postuniversaldienstes. Die Zugangsvermutung würde beispielsweise nicht eingreifen, wenn die Behörde einen privaten Postdienstleister beauftrage und dieser erst einen Tag nach Erhalt der Sendung diese an ein weiteres Unternehmen zur Weiterbeförderung weiterleite.

C. Kontext der Entscheidung

I. Nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post als bekanntgegeben, außer wenn er nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist. Im Zweifel hat die Behörde den Zugang des Verwaltungsakts und den Zeitpunkt des Zugangs nachzuweisen. Diese in der AO geregelte Zugangsvermutung findet sich wortgleich auch in anderen Verfahrensordnungen wieder (z.B. § 41 Abs. 2 Satz 1 VwVfG und § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB X). Die Regelungen stammen aus einer Zeit als die Deutsche Bundespost für die Beförderung von Briefen noch das gesetzliche Monopol hatte und man regelmäßig davon ausgehen konnte, dass ein Brief nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG innerhalb von drei Tagen den Empfänger erreicht.
II. Bestreitet der Steuerpflichtige nicht den Zugang des Schriftstücks überhaupt, sondern behauptet er lediglich, es nicht innerhalb des Dreitageszeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, hat er sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren, um Zweifel an der Dreitagesvermutung zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische – Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post – ernstlich in Betracht zu ziehen ist. Es genügt nicht schon einfaches Bestreiten, um die gesetzliche Vermutung über den Zeitpunkt des Zugangs des Schriftstücks zu entkräften. Es müssen vielmehr Zweifel berechtigt sein, sei es nach den Umständen des Falles, sei es nach dem schlüssig oder jedenfalls vernünftig begründeten Vorbringen des Steuerpflichtigen (BFH, Urt. v. 03.05.2001 – III R 56/98 – BFH/NV 2001, 1365). Das Erfordernis eines substantiierten Tatsachenvortrags darf allerdings nicht dazu führen, dass die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Behörde trifft, zulasten des Steuerpflichtigen umgekehrt wird (BFH, Urt. v. 11.07.2017 – IX R 41/15 – BFH/NV 2018, 185, Rz 18, m.w.N.).
III. Hat der Kläger seinen Vortrag im Rahmen des ihm Möglichen substantiiert, hat das Finanzgericht die Frage, ob „Zweifel“ daran bestehen, dass ihm die Einspruchsentscheidung innerhalb der Dreitagesfrist – hier spätestens am 09.11.2015 – zugegangen ist, „nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung“ zu beantworten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO). Dies schließt ein, dass die richterliche Überzeugung ihre Grundlage in dem Gesamtergebnis des Verfahrens haben muss. Das Gebot „freier“ Überzeugungsbildung verpflichtet damit das Finanzgericht dazu, sich zunächst die geeigneten Grundlagen zu verschaffen, um sich darauf eine derartige Überzeugung bilden zu können. Hierzu gehört eine angemessene Aufklärung des maßgeblichen Sachverhalts (§ 76 FGO). Das Gericht darf insoweit Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, nicht ohne zureichenden Grund ausblenden. Der Zugang bleibt mithin Gegenstand der Sachaufklärungspflicht des Finanzgerichts.
IV. Unter welchen näheren Voraussetzungen ein Gericht von der Bekanntgabe innerhalb des Dreitageszeitraums nach § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO überzeugt ist oder ob noch Zweifel am Zugang bestehen, ist Inhalt der jeweiligen tatrichterlichen Überzeugungsbildung (vgl. BFH, Urt. v. 31.10.2000 – VIII R 14/00 – BStBl II 2001, 156). Diese ist grundsätzlich nach § 118 Abs. 2 FGO für die Rechtsmittelinstanz bindend. Sie kann im Revisionsverfahren nur darauf hin überprüft werden, ob das Finanzgericht von einem unzureichend aufgeklärten Sachverhalt ausgegangen ist oder mit seiner Sachverhaltswürdigung gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoßen hat.

D. Auswirkungen für die Praxis

Die Zugangsvermutung des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO ist bei Beauftragung eines privaten Postdienstleisters unter Einschaltung eines Subunternehmers erheblich eingeschränkt. Bei privaten Zustelldiensten wird im Rahmen der Lizenzierung die Einhaltung konkreter Postlaufzeiten nicht geprüft. Daher ist zu ermitteln, ob nach den bei dem privaten Dienstleister vorgesehenen organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen regelmäßig von einem Zugang des zu befördernden Schriftstücks innerhalb von drei Tagen ausgegangen werden kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn neben dem beauftragten privaten Zustelldienst, der bei bundesweiten Zustellungen regelmäßig nur über Verbundgesellschaften tätig wird, ein weiteres Dienstleistungsunternehmen zwischengeschaltet wird. Insoweit ist die Einschaltung privater Postdienstleister bei der Frage von Bedeutung, ob die Zugangsvermutung als widerlegt gilt, weil hierdurch möglicherweise ein längerer Postlauf die Folge ist.

Zugangsvermutung bei Beauftragung eines privaten Postdienstleisters unter Einschaltung eines Subunternehmers
Thomas HansenRechtsanwalt
  • Fachanwalt für Steuerrecht
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