Nachfolgend ein Beitrag vom 27.2.2017 von Selder, jurisPR-SteuerR 9/2017 Anm. 3

Leitsätze

1. Ein Kind wird auch dann für einen Beruf ausgebildet, wenn es neben seiner Erwerbstätigkeit ein Studium ernsthaft und nachhaltig betreibt.
2. Das Tatbestandsmerkmal einer Berufsausbildung i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG enthält kein einschränkendes Erfordernis eines zeitlichen Mindestumfangs von Ausbildungsmaßnahmen. Die Grundsätze, die der BFH für die Anerkennung eines Sprachschulunterrichts im Rahmen eines Au-Pair-Aufenthalts als Berufsausbildung aufgestellt hat, finden im Hinblick auf eine im Inland absolvierte Schul- oder Universitätsausbildung keine Anwendung.
3. Mehraktige Ausbildungsmaßnahmen sind Teil einer einheitlichen Erstausbildung, wenn sie zeitlich und inhaltlich so aufeinander abgestimmt sind, dass die Ausbildung nach Erreichen des ersten Abschlusses fortgesetzt werden soll und das angestrebte Berufsziel erst über den weiterführenden Abschluss erreicht werden kann (Anschluss an BFH, Urt. v. 03.07.2014 – III R 52/13 Rn. 25 f. – BFHE 246, 427 – BStBl II 2015, 152; BFH, Urt. v. 16.06.2015 – XI R 1/14 Rn. 27 – BFH/NV 2015, 1378).

A. Problemstellung

Der Besprechungsfall betrifft zum einen die Frage, ob eine Berufsausbildung auch dann durch Kindergeld und kindbedingte Freibeträge gefördert wird, wenn die Ausbildung nur wenige Wochenstunden (hier: fünf) in Anspruch nimmt. Zum anderen geht es – einmal mehr – darum, ob mehrere Ausbildungsmaßnahmen isoliert zu betrachten oder zu einer einheitlichen Erstausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zusammenzufassen sind.

B. Inhalt und Gegenstand der Entscheidung

Die im Juli 1990 geborene Tochter (T) der Klägerin wurde bis September 2010 zur Physiotherapeutin ausgebildet. Seither ist sie berechtigt, die Berufsbezeichnung „Physiotherapeut“ zu führen. Nach dem Besuch einer Fachoberschule (August 2010 bis Juni 2011) war sie ab September 2011 im Studiengang „Physiotherapie Dual“ immatrikuliert, in dem theoretische und praktische Ausbildungsabschnitte sich abwechseln oder überschneiden und dessen Regelstudienzeit neun Semester umfasst. Das Studium wird mit dem Grad „Bachelor of Science Physiotherapie“ abgeschlossen. Zulassungsvoraussetzung ist die Hochschul- oder die Fachhochschulreife. Da T bereits eine Ausbildung zur Physiotherapeutin absolviert hatte, wurden ihr Ausbildungsmodule angerechnet. Sie hatte daher in den ersten sechs Semestern nur ein Modul von fünf Wochenstunden zu belegen. Diese Ausbildung fand an den Wochenenden statt. Unabhängig vom dualen Studium arbeitete T mit 30 Wochenstunden als angestellte Physiotherapeutin.
Die Familienkasse gewährte (u.a.) für den Zeitraum Juni 2013 bis September 2014 kein Kindergeld mehr. Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg. Das Finanzgericht war der Ansicht, das duale Studium sei zwar Bestandteil einer mehraktigen (Erst-)Ausbildung (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Angesichts des geringen zeitlichen Umfangs und der zeitlichen Verteilung handele es sich jedoch nicht um eine Ausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 lit. a EStG.
Auf die Revision der Klägerin hat der BFH das Urteil aufgehoben und hat der Klage stattgegeben. Er beschäftigte sich zunächst mit der Frage, ob angesichts des geringen zeitlichen Umfangs der Ausbildung von fünf Wochenstunden überhaupt von einer Ausbildung i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 lit. a EStG gesprochen werden kann. Dass die Ausbildung zum „Bachelor of Science Physiotherapie“ dem Grunde nach als kindergeldrechtlich relevante Ausbildung anzusehen ist, steht außer Frage. Der BFH teilte nicht die Rechtsansicht des Finanzgerichts, wonach die geringe Stundenzahl und der Umstand, dass die Vorlesungen an den Wochenenden stattfanden, einer Anerkennung als Berufsausbildung entgegenstünden. Ein zeitlicher Mindestumfang ist gesetzlich nicht vorgesehen. Für den BFH ist vielmehr entscheidend, dass es sich um Ausbildungsmaßnahmen handelt, die als Grundlage für den angestrebten Beruf geeignet sind. Aus der Rechtsprechung des BFH zum Sprachunterricht im Rahmen von Au-Pair-Aufenthalten ergibt sich nichts Gegenteiliges. Hier hält der BFH im Allgemeinen zehn Wochenstunden für erforderlich (BFH, Urt. v. 09.06.1999 – VI R 33/98 – BStBl II 1999, 701). Diese Einschränkungen haben den Zweck, als Berufsausbildung anzuerkennende Sprachkurse im Ausland von Aufenthalten zu Urlaubszwecken oder zu sonstigen Zwecken abzugrenzen (vgl. BFH, Urt. v. 26.10.2012 – VI R 102/10 – BFH/NV 2013, 366). Eine derartige Abgrenzung ist bei einer Ausbildung wie hier jedoch nicht erforderlich.
Der Anspruch auf Kindergeld scheiterte im Streitfall auch nicht daran, dass T mit 30 Wochenstunden berufstätig war. Ein Kindergeldanspruch ist zwar nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausgeschlossen, wenn ein Kind nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung mit mindestens 20 Wochenstunden erwerbstätig ist. Nach Ansicht des BFH hatte jedoch T ihre Erstausbildung im Streitzeitraum noch nicht abgeschlossen. Nach mittlerweile gefestigter BFH-Rechtsprechung ist für die Annahme einer Erstausbildung entscheidend, ob sich ein erster Ausbildungsabschluss als integrativer Bestandteil eines einheitlichen Ausbildungsgangs darstellt (z.B. BFH, Urt. v. 03.09.2015 – VI R 9/15 – BStBl II 2016, 166 m. Anm. Geserich, jurisPR-SteuerR 1/2016 Anm. 4). Abzustellen ist darauf, ob die Ausbildungsabschnitte in einem engen sachlichen Zusammenhang stehen (die gleiche Berufssparte, der gleiche fachliche Bereich) und in engem zeitlichen Zusammenhang durchgeführt werden. Aufgrund objektiver Beweisanzeichen muss erkennbar sein, dass das Kind die für sein angestrebtes Berufsziel erforderliche Ausbildung nicht bereits mit dem ersten Abschluss beendet hat (BFH, Urt. v. 03.07.2014 – III R 52/13 – BStBl II 2015, 152 m. Anm. Selder, jurisPR-SteuerR 50/2014 Anm. 5). Nach Ansicht des BFH stand das duale Studium in einem engen zeitlichen und sachlichen Zusammenhang mit dem vorherigen Abschluss „Physiotherapeutin“. Der zeitliche Zusammenhang ergab sich für den BFH daraus, dass sich T noch während der Ausbildung zur Physiotherapeutin an der Fachoberschule beworben hatte, deren Besuch Voraussetzung für den Beginn des dualen Studiums war. Der Schulausbildung schloss sich unmittelbar das duale Studium an. Der darüber hinaus erforderliche fachliche Zusammenhang war offenkundig. Darauf, dass T im Hinblick auf ihre Erwerbstätigkeit nicht unterhaltsberechtigt war, kommt es nicht an.

C. Kontext der Entscheidung

Bei der Frage, ob mehrere Ausbildungsmaßnahmen zu einer einheitlichen (Erst-)Ausbildung zusammenzufassen sind, zeigte sich der BFH großzügig. Verbindende Klammer zwischen der Ausbildung zur Physiotherapeutin und dem Abschluss als „Bachelor of Science Physiotherapie“ ist das angestrebte Berufsziel, d.h. der Wille des Kindes, einen bestimmten Berufsabschluss zu erreichen. Wird dieses Ziel – wie im Streitfall – zügig erreicht, so bestehen keine Zweifel daran, dass das Kind es in der Zeit davor auch angestrebt hat. Kommt es zum Abbruch der Ausbildung, so ist es eine Nachweisfrage, ob in der Zeit davor noch ein Berufsziel angestrebt wurde.
Im Streitfall lag zwischen dem Ende der Ausbildung zur Physiotherapeutin und dem Beginn des dualen Studiums der Besuch der Fachoberschule, der Zugangsvoraussetzung für das duale Studium war. Somit war auch der Schulbesuch Bestandteil der Erstausbildung und nicht etwa eine Zäsur zwischen zwei Ausbildungsmaßnahmen, die eine Zusammenfassung verhindert. Eine derartige Zäsur hat der BFH im Urteil vom 04.02.2016 (III R 14/15 – BStBl II 2016, 615 m. Anm. Selder, jurisPR-SteuerR 30/2016 Anm. 4) in einem Fall angenommen, in dem zwischen zwei Ausbildungsabschnitten eine Berufstätigkeit lag, die Voraussetzung für den Beginn der zweiten Ausbildungsmaßnahme war. Warum eine für eine weitere Berufsausbildung notwendige Berufstätigkeit zu einer Zäsur führt, nicht aber eine zwischen zwei Ausbildungsabschnitte eingeschaltete Schulausbildung, die Voraussetzung für die Teilnahme an der letzten Ausbildungsmaßnahme ist, ist nicht ohne weiteres ersichtlich.

D. Auswirkungen für die Praxis

Der BFH hat es abgelehnt, für die Annahme einer Ausbildung i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 lit. a EStG eine Geringfügigkeitsgrenze in zeitlicher Hinsicht festzulegen. Bedeutsam ist dies für Fälle, in denen ein Kind ohne Berufsausbildung an einer Ausbildungsmaßnahme teilnimmt. Da eine Berufsausbildung nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG weiter zu verstehen ist als eine erstmalige Berufsausbildung i.S.d. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG, sind auch Ausbildungsmaßnahmen, die nicht zu einem Abschluss führen, begünstigt. Führt man die vom BFH aufgezeigte Linie fort, dann müsste auch für ein Kind, das keine Berufsausbildung hat, jedoch in vollem Umfang erwerbstätig ist und wöchentlich am Sprachkurs einer Volkshochschule teilnimmt, Kindergeld zu gewähren sein, sofern es gelingt, einen Zusammenhang zwischen der Erwerbstätigkeit und der Ausbildung herzustellen.